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«Ich bin erst fünfzehn und noch zweieinhalb Jahre hier, Tag für Tag, mit den anderen Minderjährigen und dem Meer. Und danach, genauer gesagt am 3. August 1994, steckt ihr mich nach Poggioreale, Direttò, das wisst ihr genauso gut wie ich! So steht’s geschrieben, und was geschrieben steht, ist immer beschissen. Das ist also euer Geschenk, wenn ich volljährig bin. Das Meer in Nisida ist wirklich zu nix zu gebrauchen.» Der fünfzehnjährige Zeno sitzt im Jahr 1991 auf der kleinen Insel Nisida im Jugendgefängnis ein, weil er ein Mörder ist. Er kann nicht schwimmen, und den Blick aus seiner Zelle über das unendliche, unüberwindbare Meer verabscheut er. Als ihm seine Lehrerin Anregungen zum Nachdenken über sein Leben gibt, hängt daran die Aufgabe, alles niederzuschreiben. Denn seine Rechtschreibung hat er im Unterricht bereits verbessern können. Als Belohnung winkt ein Freigang über Weihnachten, zwei Tage bei seiner Mutter verbringen zu dürfen. Er legt los, seine Gedanken auf Papier zu bringen, in seiner einfachen, derben Sprache. Dies ist sein Bericht. Zeno ist in Forcella aufgewachsen, in einem der Quartieri in Napoli, in denen die Camorra so allgegenwärtig ist, wie die Armut. Als sein krimineller und prügelnder Vater ins Gefängnis kommt, wird der Zehnjährige zum Mann im Haus. Denn obwohl seine Mutter anschaffen geht, reicht das Geld nicht aus, um ihn und seine Schwester durchzubringen. Zeno geht klauen und bald bietet ihm ein kleiner Capo an, für ihn als Drogenkurier zu arbeiten. Bald steckt Zeno mitten drin in den Revierkämpfen der Familien. Dem Jungen auf dem Roller, den sie geschickt haben, um ihn umzubringen, verpasst Zeno drei Kugeln. Er oder ich, sagt Zeno – er hat das Duell überlebt. «Sie behandeln uns wie Tiere, nur Marietto findet alles besser in Nisida, wie ein geiles Fünf-Sternehotel, weil vorher ist es ihm noch schlechter gegangen.» Das Jugendgefängnis auf der Insel Nisida im Golf von Neapel liegt in einer alten Bourbonenfestung auf einem ehemaligen Vulkankrater, der wie ein Halbmond aus dem Meer steigt und sich wie ein natürlicher Swimmingpool zum Golf von Neapel öffnet. 95 Prozent der Häftlinge stammen aus Neapel; sie sind die Drogenkuriere der Mafia oder Auftragsmörder, denn die Camorra sucht gezielt Jugendliche aus, ihre schmutzigen Geschäfte zu erledigen, die im Jugendstrafmaß gut wegkommen. Und, früh übt sich, wer ein Meister werden will. Kinder aus den ärmlichsten Familien. Die Arbeitslosigkeit in Neapel ist hoch, Jugendarbeitslosigkeit bis zu 50 Prozent. Fast alle werden rückfällig, oft sitzen Väter und Brüder parallel im Knast. Eine legale Arbeit anzunehmen, ist in der Regel auch nicht reizvoll, da man von dem Gehalt nicht leben kann, wie sie z. B. im Servicebereich gezahlt wird. Ein hausgemachtes Problem des Mezzogiorno. Francesca Maria Benvenutoin stammt aus Neapel, hat Jura studiert, promovierte als Anwältin für internationales Strafrecht, arbeitet heute in Paris. Sie zeigt mit diesem Roman den typischen Weg eines Jugendlichen aus den Armenstadtteilen Neapels. Im Gefängnis resümiert Zeno sein Dasein, träumt er von einem normalen Leben. Wenn er volljährig ist, wird er in ein Gefängnis für Erwachsene verlegt werden, dort noch einige Jahre einsitzen. Sein Alptraum. «In den Gassen gibt es aber auch anständige Leute, nicht alle sind kriminell wie ich oder Ciro. Das muss ich auch schreiben, das ist nur richtig. Die Anständigen tun keinem weh, malochen und haben nicht mal ne Knarre im Haus. Wie Natalia ihr Vater und andere wie er. Vielen von denen geht das alles tierisch auf die Eier, wie wir noch Kinder sind und der Tod schon unser Freund.» Zeno hat eine «Verlobte», Natalia, hofft, dass sie auf ihn warten wird. Doch er weiß, ihr anständiger Vater kann ihn nicht leiden, wird versuchen, seine Tochter einem anständigen Mann in die Hände zu geben. Zenos große Schwester hat ein gutes Los gezogen, einen Mann geheiratet, der gut verdient, ohne kriminell zu sein. Doch sie hat sich völlig von der Familie abgekapselt, will nichts mehr von ihrem Barrio wissen. Wir erfahren aber auch ein wenig über andere Häftlinge, wie den sehr hübschen, stillen Gaetano, der eine zarte Seele ist. Der sitzt für die Tat eines anderen, damit seine Familie von dem Blutgeld für ihn überleben kann. Bald ist es so weit: Der Tag der Volljährigkeit, die Verlegung ins richtige Gefängnis zu den Männern. Gaetano erhängt sich in der Nacht vor seinem Geburtstag. Ein Drama, das in seiner einfachen Sprache authentisch klingt, eine Geschichte, die ans Herz geht. Für Authentizität hat sicherlich auch die Erfahrung als Juristin von Francesca Maria Benvenuto beigetragen. Der Mezzogiorno und seine armen Menschen, die Camorra, die N’drangheta, junge Menschen, die zu Kriminellen erzogen werden. Hier hat sich bis heute nicht viel geändert. Der Staat versagt auf ganzer Linie – daran wird auch die postfaschistische Partei Fratelli d’Italia nichts ändern. «Der echte Mörder, der Sohn von einem Dreckskerl aus dem Rione Sanità, zahlt Gaetano seiner Familie eine Million Lire für jedes Jahr, das er unschuldig im Gefängnis sitzt. Und die Familie von Gaetano ist noch ärmer wie ich und Mamma zusammen und hat Ja gesagt. Und das scheint mit doch das Normalste von der Welt! Ich hätt genauso Ja gesagt!» Francesca Maria Benvenuto, geb. 1986 in Neapel, schloss ihr Jurastudium mit einer Promotion in Internationalem Strafrecht ab. 2012 setzte sie ihre Ausbildung an der Sorbonne fort und arbeitet seitdem als Anwältin in Paris. Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer ist ihr erstes Buch.