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Moderner Horror „Should we stay or should we go“, so lautet der etwas „richtigere“ OT des neuen Romans von Lionel Shriver. Kay und Cyril Wilkinson, das englische Ehepaar hier, sie sind die Hauptpersonen. Deren Geschichte und deren Entscheidung in diversen Varianten erzählt wird. Wie könnte ein Leben aussehen, wenn man dieses getan und jenes gelassen hätte? Ich sah mal einen Film, der hieß: „Smoking or no smoking?“, wo die Dauer einer gerauchten Zigarette die jeweiligen Veränderungen beeinflusst hat. Paul Austers „4321“ erzählt auch ein Leben in vier Varianten. Zuallererst wird vom 14-jährigen Verfall von Kays Vater berichtet: Demenz in den schlimmstmöglichen Vorstellungen. Ich habe mehrere demente Menschen kennengelernt und viel hängt von der körperlichen Verfassung ab. Es hört sich makaber an, aber je besser die körperliche Verfassung des Kranken ist, desto schlimmer wird die Pflege für die Angehörigen. Denn bei jemandem, der sich heftig wehrt oder dauernd weglaufen will und dies noch kann, da schafft es ein Mensch allein oft nicht, die Aufgabe zu bewältigen. Und wenn dies vierzehn Jahre lang praktiziert werden muss, da wird alles „überschrieben“, was den Kranken jemals ausgemacht hat. Und das wollen Kay und Cyril weder sich noch ihren drei Kindern zumuten. Also beschließen sie, sich an ihrem 80sten, bzw. 81sten umzubringen. Cyril als Arzt, der er ist oder war, kann leicht tödliche Dosen für beide besorgen. Ich kenne ein betagtes Ehepaar, das auch so entsprechend vorgesorgt hat. Der Mann ist über neunzig und auch dement, aber sehr freundlich und leicht lenkbar. Und nicht hoch aggressiv wie Kays Vater. Denn ins Heim wollen sie nicht, genau so wenig wie unsere Protagonisten. „Sie verfallen wie alle anderen und verbringen ihr jammervolles Lebensende wie alle anderen: entweder mit einer Bulgarin im Gästezimmer, die sie verabscheut und ihnen heimlich ihren Whisky klaut, oder in einer zynischen Anstalt, die Zeit und Geld spart, indem sie ihnen jeden Mittag altbackenes Brot mit Streichwurst auftischt.“ (S. 25) Was droht im Heim? In den Kapiteln: „Spaß mit Dr. Mimi“ und „Mehr Spaß mit Dr. Mimi“ erfahren wir, was da kommt. Oder kommen könnte. Es soll möglicherweise Satire sein, aber in meiner Vorstellung könnte das bitterernst sein. Schlimmstmögliche Unterbringung und schlimmstmögliche Behandlung der „Gäste“. Je preiswerter, desto übler. Ich kenne eine Krankenschwester, die erzählte, dass es in einem Heim in Berlin durchaus üblich sei, die Bewohner nachts um Drei zu wecken und zu duschen. Der heilende Schlaf wird dann jedes Mal unterbrochen. Schon früher musste ich das Buch: „Abgezockt und totgepflegt“ abbrechen, weil ich es nicht ertragen konnte. Hier habe ich durchgehalten, weil Shrivers Humor das möglich macht. Auch die englischen Behörden bekommen in einer der dystopischen Varianten ihr Fett weg: „Die Aufklärungsquote der britischen Polizei bei Diebstahl, Betrug und Überfällen ging gegen null, und einige Dienststellen hatten seit Monaten keinen einzigen Einbrecher gefasst. Sie schikanierten ältere Steuerzahler, weil verängstigte, fügsame, gesetzestreue Menschen leichte Beute waren.“ (S. 167) Die drei Kinder des Paars: Simon, Hayley & Roy lernen wir kennen, teils von ihren schlimmstmöglichen Seiten. „Was auch immer Leute besonders nachdrücklich behaupten, nicht zu tun, ist ein zuverlässiger Indikator für das, was sie tun.“ (S. 188) Wie: „Wir sind alle aus Sorge hier, und wir wollen für euch nur das Beste. Es ist nicht so, dass wir hier über euch zu Gericht sitzen.“ ebd. Auch die Migration, die in England wohl inzwischen jedes halbwegs normale Maß längst hinter sich gelassen hat, wird thematisiert: „Und was für einen Sinn hat ein Land, wenn es nicht seine Bürger beschützt? Sonst ist die Staatsbürgerschaft doch bedeutungslos. Wenn die Rechte von Einwohnern auf eine Stufe mit den Rechten von allen anderen Menschen auf der Welt gestellt werden, gibt es kein Land mehr.“ (S. 278) Fazit: Das Buch hat mich regelrecht umgehauen. Dankbar bin ich Sven Böttcher, der es bei „B & B – wir müssen reden“ empfohlen hat. Sollte jeder lesen, denn dieses „beißend komische Gedankenexperiment“ (laut The Times) bleibt wohl für immer haften. *****