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Buchdoktor

Posted on 18.12.2024

1908 kommt mit Pǔyí der letzte chinesische Kaiser der Mandschu-/Qing-Dynastie an die Macht, der 1911 gestürzt wird. In der Mandschurei, der durch japanische, koreanische, russische und mongolische Einflüsse geprägten Provinz, werden im jungen Jahrhundert Polygamie, gebundene Füße bei Frauen der Oberschicht und die traditionelle Beamtenprüfung abgeschafft. Länger jedoch wird sich, angeblich nur in Nordchina, sowie in Japan und Korea, der Mythos von Fuchsgeistern halten. Fuchsgeister werden häufig als schwer zu kontrollierende raffinierte Verführerinnen dargestellt, die erst gezähmt werden müssen, ehe sie ihren Ehemännern Söhne gebären werden. Yangsze Choos Icherzählerin Snow/Yuki/Xue/Ah San = Nr. 3 kann als Gestaltwandlerin menschliche Figur annehmen, aber auch die einer Füchsin. In der Ichform erzählt sie über ihr Motiv, den Tod ihres zweijährigen Kindes zu rächen und spottet parallel über „uns Fuchsgeister“ an sich. Xue gelangt als Dienerin der Matriarchin einer Apothekerfamilie nach u. a. Mukden/Shenyang und kann durch glückliche Zufälle im Schutz ihrer Herrin und deren Sohn ihrer Beute folgen. Ihre Wege kreuzen sich mit denen des Ermittlers Bao, der den offiziellen chinesischen Namen einer tot aufgefundenen jungen Frau aus dem Unterhaltungsgewerbe feststellen will, damit eine Trauerfeier für sie abgehalten werden kann. Bao teilt seinen Namen mit dem legendären historischen Richter Bao Gong/Bao Zhen. Der neuzeitliche Bao, bereits im Rentenalter und beliebt als Vermittler in Konflikten, verfügt über einen ausgeprägten Instinkt Lügen zu erkennen. Besonders interessiert ist er an ungewöhnlichen Ereignissen mit Füchsen. 60 Jahre zuvor schwärmte er für die kleine Tochter Tagtaa der Nachbarfamilie, mit der er, für Erwachsene unsichtbar, in einem riesigen Rhododendron-Busch einen Schrein für den Fuchsgott einrichtete. Auch wenn der Haushalt streng konfuzianisch ist, lässt sich der vom Personal weitergetragene Fuchsmythos nicht ausrotten. Bao lernt durch die Freundschaft zu Tagtaa früh die komplizierten Familienverhältnisse seiner Zeit kennen. Ehen werden traditionell vermittelt; wohlhabende Männer haben von mehreren Hauptfrauen (mit Lotusfüßen) legale Nachkommen, von Konkubinen (teils mit großen Füßen) illegale Kinder. Für den inzwischen etwas älteren Bao bedeuten Tagtaas mongolische Vorfahren das Ende jeder Schwärmerei, denn die dezent dunkelhäutige Tochter einer Konkubine mit ungebundenen Füßen kann den Ansprüchen seiner Eltern an eine Ehefrau keinesfalls genügen. Snows/Xues Arbeitgeber sind offenbar vom Fluch betroffen, dass der ältere Sohn sowieso nicht lange leben wird und der Zweitälteste dessen Rolle nebst allen Erwartungen an das zukünftige Familienoberhaupt zu übernehmen hat. Egal welches Geschlecht ein Neugeborenes haben wird, ein Junge wird seinen Bruder von seinem Platz verdrängen und ein Mädchen wertlos sein, weil von ihm allein die Schwiegerfamilie profitieren wird. Mit Enkel Bohai, der wie viele Altersgenossen in Japan studiert, könnte die Moderne in die Apothekerdynastie einziehen, doch zuvor müssen Bohai, zwei seiner Freunde, die immer noch mächtige Tai furen/Madame und Snow/Xue ein Abenteuer bestehen. Yangsze Choos komplexer Genremix aus Kriminalfall, historischem Abenteuer und Fuchsmythos/Tierfantasy lässt sich angenehm flüssig lesen. Xue erzählt in Ichform auf zwei Ebenen, in menschlicher Rolle und als Füchsin, der Blick auf Bao wird durch die Erzählform im Präsens markiert. Da die Handlungsebenen in Baos Kindheit und in der Gegenwart knapp 60 Jahre auseinanderliegen, kommt die Lösung der miteinander verknüpften Fälle (Leichenfund und Rachefeldzug von Xue) nicht überraschend. Die kulturelle Vielfalt, die in der Mandschurei ermöglicht, Herkunft, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Sprache und Kultur individuell zu kombinieren und zu wechseln, sorgt allerdings für stete Spannung. Man sieht stets nur einen Teil der Identität; denn hier kann jemand Chinesisch aussehen, Russisch sprechen und als Koreaner auftreten usw. Indem die Figuren je nach Situation unterschiedliche Namensvarianten benutzen und die Autorin die Bedeutung dieser Namen kurz im Nebensatz erklärt, wird das multikulturelle Setting deutlich. Als Ausländer kann man das chinesische Spiel mit Namens-Varianten, Anspielungen und Bedeutung des jeweiligen Schriftzeichens hier leichter nachvollziehen als in vergleichbaren Texten, in denen Figuren wechseln zwischen Taufnamen, Spitznamen und angenommenem Namen. Besonders einfach machen es einem die beiden Männerfiguren Shiro/bai/weiß und Kuro/hei/schwarz. Wer die Existenz von Tiergestalten, die auch in Menschenform auftreten, als gegeben hinnehmen kann, findet hier einen komplexen Roman, in den Yangsze Choo außergewöhnlich geschickt Informationen über Kultur und Mythologie Chinas eingefügt hat.

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