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rumblebee

Posted on 29.11.2018

Eins vorab: ich möchte diesen Text weniger als "Rezension" verstanden wissen. Denn das käme mir nahezu unpassend vor. Ein solches Buch, das Authentizität und aus Leiden erlangte Lebensklugheit in sich vereint, zur Unterhaltung zu lesen und zu besprechen, nein, das fände ich falsch. Sagen wir, mit dem Erstellen dieses Textes möchte ich möglichst viele Leser auf dieses Buch aufmerksam machen, und es ihnen anempfehlen. Denn, seien wir mal ganz ehrlich: im Vergleich zu Lizzie Doron kann man den "Jungen im gestreiften Pyjama" von John Boyne in der Pfeife rauchen. Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll, dieses Buch zu beschreiben. Es atmet Verständnis für die "kleinen Leute" aus jeder Zeile, und es macht die Schrecken der Shoah hautnah erlebbar - eben dadurch, dass es viele "Leerstellen" lässt, und das finde ich ein absolutes Kunststück. Die Erzählerin, Lea, genannt Leale, hat keine Vergangenheit und kaum Identität - außer derjenigen, die sie bei den zwei Männern ihres Lebens, Srulik und Sajtschik, gefunden hat. Als auch diese beiden sterben, verliert sie scheinbar gänzlich ihren Lebensmut. Sie lebt nur noch in ihren Erinnerungen, und streunt mit dem Leser darin herum. Wir machen mit ihr einen Streifzug durch ein Viertel in Tel Aviv, durch Zeiten, Episoden und Einzelschicksale. Dabei wird es für den Leser unmittelbar anschaulich, welchen Kraftakt es bedeutet haben muss, nach der Shoah wieder ein "normales Leben" zu führen - insofern man das überhaupt sagen kann. Lea wurde von Mordechai in einem Krakauer Waisenhaus aufgelesen, ihre Eltern sind unbekannt, ebenso ihr gesamtes voriges Leben. Sie erinnert sich nur noch an ein Versteck in einem Erdloch, und an eine Frau, die ihr zu essen gab. Da verwundert es nicht, dass sie mit ganzem Herzen an den zwei Menschen hängt, die sie bei sich aufnahmen. Das war zunächst Srulik, der sie heiratete - danach Sajtschik, der sie - halb aus Mitleid - in seinem Friseursalon arbeiten liess. 30 Jahre lang war sie "die Maniküre", und als solche war sie Teil des Herzens ihres Viertels. Denn in Sajtschiks Salon spielte sich alles ab. Dort spielten Kinder, schütteten Frauen ihr Herz aus, trafen sich Überlebende, wurden Schicksale entschieden. Lea ist dabei durchaus ein wenig naiv, und gerade das erschüttert den Leser bisweilen sehr. Sie hat nie wahrhaben wollen, dass Sajtschik schwul war - ebenso wenig versteht sie, warum die Opernsängerin beim Erscheinen des Deutschen flüchtet, oder warum Sajtschik beinahe Anfälle bekommt, wenn er Haare zusammenfegen soll. Mit schöner Regelmäßigkeit hatte ich beim Lesen einen dicken Kloß im Hals, was durch die schnörkellose, und dennoch gefühlvolle Sprache unterstützt wurde. Was für ein Buch. Nur durch Zufall war ich auf dieses Buch aufmerksam geworden - eine Freundin hat es mir geschenkt. Ihr bin ich sehr dankbar. Denn Perlen wie diese sollten viel mehr Verbreitung finden. Das Buch wirkt noch lange in mir nach.

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