magineer
Nicht nur für Fans Ausgebrannt, erschöpft, gefressen vom eigenen Erfolg und dem seiner Kunstfigur Ziggy Stardust: Mitte der 70er Jahre braucht David Bowie dringend eine Auszeit, muss sich selbst neu erfinden und die selbstzerstörerische Aura des glamourösen L.A. hinter sich lassen. Und wo könnte ihm das besser gelingen als in der grauen, eingezäunten und vom Kalten Krieg bedrohten Exklave West-Berlin, deren lebensfrohe Seite (denn auch die gibt es) hungrig zwischen Punk und Avantgarde, Elektro und Fashion, Irrsinn und Methode vibriert? Mit einem Umweg über Frankreich (wo er das Album vorbereitet) kommt Bowie zusammen mit Iggy Pop in die Stadt hinter der Mauer und findet dort die Kreativität, die er verloren glaubte, und den Zusammenhalt, den er brauchte. Und damit entsteht sein Jahrhundertwerk "Low", das auch heute noch zum Besten zählt, was der Thin White Duke je produziert hat ... Musikgeschichte als Comic (oder Graphic Novel, um im Neudeutschen zu bleiben) - wahrscheinlich kann das keiner besser als der Biographiekünstler Reinhard Kleist, dessen Werk im wesentlichen Verneigungen vor all den Größen des Musikgeschäfts umfasst. Seine Johnny-Cash-Bio "I See a Darkness" wurde mit Preisen überschüttet, sein Elvis-Porträt ist ebenso gelungen wie die zwei Bände zu Underground-Genie Nick Cave. Da ist es wenig überraschend, dass auch "Low" überraschende und vielschichtige Einblicke in die Seele eines Superstars zu bieten hat - zumal Kleists Zusammenfassung von Bowies Berlin-Jahren schon der zweite Band seiner illustrierten Lebensgeschichte des Musikers ist: Vor drei Jahren erschien bereits "Starman", der Auftakt zu diesem Projekt, in dem es um die Zeit vor Berlin geht, den Wahnsinn des kometenhaften Aufstiegs von Bowie, die Ziggy-Stardust-Phase, den Exzess des Erfolgs, der letztlich zwingend Bowies Flucht nach Europa einleiten muss. Man muss den ersten Band nicht gelesen haben, aber es hilft, falls man ansonsten noch gar nichts über Bowie weiß. Darüber hinaus ist "Low" aber sehr gut alleinstehend genießbar. Reinhard Kleists Zeichnungen bleiben sachlich, seine Panels sind übersichtlich und bedienen keine Kunst nur um der Kunst willen, aber vielleicht macht genau das auch die Faszination seiner Arbeit aus. In "Low" steht Berlin im Mittelpunkt, jenes rotzige, gleichzeitig politische und apolitische Anarcho-Ungetüm, dessen isolierte Lage Fluch und Segen zugleich war und gerade in der Hochphase dieser Isolation ein Auffangbecken für all diejenigen, die vor der Langeweile flüchteten, vor dem Überfluss, vor Kreativengpässen und Mutlosigkeit und sich dann dort trafen, in den Straßen, die irgendwann in Mauern endeten und in denen doch alles möglich war. Kleist fängt diese faszinierende Subkultur der Mauerstadt in vielen kleinen Details ein, verbindet sie mit Bowie, der Schritt für Schritt seine neue Welt entdeckt, und vergisst auch Freunde und Weggefährten wie natürlich seinen WG-Genossen Iggy Pop oder die schillernde Romy Haag dabei nicht und dokumentiert so ganz nebenbei auch den Entstehungsprozess des Albums in den legendenumrankten Räumen der Hansa-Studios. "Low" ist Künstlerbiographie, spannende Lebensgeschichte und nostalgische Rückschau auf eine Zeit, als Musik noch Bedeutung hatte und die Welt eine andere war. Faszinierend realistisch und halluzinatorisch fantastisch zugleich, ein Stilmix, eine Hommage und ein Abgesang auf eine Epoche, in seiner dunklen Lebensfreude von sogartiger Wirkung: Reinhard Kleist macht - wieder mal - süchtig nach mehr ...