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Ein Vampir als Verführungskünstlerin Bram Stokers „Dracula“ gilt als einer der bekannteste Vampirromane der Literaturgeschichte und ist vielen Leserinnen und Lesern ein Begriff. Weniger bekannt ist hingegen „Carmilla“, das weibliche Pendant zu diesem Werk, geschrieben von Sheridan Le Fanu und bereits Jahrzehnte vor „Dracula“ veröffentlicht. Obwohl der Roman auch in Deutschland mehrfach übersetzt wurde und bei verschiedenen Verlagen erschien, blieb er lange im Schatten seines berühmten Nachfolgers. Mit der aktuellen Ausgabe des Klett-Cotta Verlags bietet sich die Gelegenheit, dieses Frühwerk der Schauerliteratur neu zu entdecken und seine literarische Qualität sowie seine Bedeutung für das Genre zu beurteilen. Das Setting von „Carmilla“ ist wie aus dem Lehrbuch des viktorianischen Gruselromans: Laura, die junge Protagonistin, lebt mit ihrem Vater abgeschieden auf einem Schloss in den österreichischen Wäldern. Bereits diese Kulisse ruft ein Gefühl der Einsamkeit und Melancholie hervor, unterstützt durch spärliche, aber effektive Beschreibungen, die die Atmosphäre von Isolation und unterschwelliger Bedrohung intensivieren. Zwar mag das Bild des gotischen Schlosses für heutige Leser vertraut bis klischeehaft wirken, doch in der Entstehungszeit des Romans war diese Bühne sicherlich weniger ausgelaugt als heutzutage. Diese Inszenierung des Settings, so schlicht sie auch wirken mag, entfaltet durch ihren Minimalismus eine außerordentliche Wirkkraft. Das Schloss wird zu einer Art Mikrokosmos, in dem die Grenzen zwischen Realität und Fantastik verschwimmen – ein Element, das den Grundstein für die düstere Stimmung des gesamten Romans legt. Mit dem Eintreffen von Carmilla, dem titelgebenden Charakter, nimmt die Handlung ihren Lauf. Le Fanu gelingt es, diese rätselhafte Figur von Beginn an ambivalent zu zeichnen. Auf der einen Seite fasziniert Carmilla mit ihrer Schönheit und Höflichkeit, die besonders Laura in den Bann zieht. Auf der anderen Seite umweht sie ein Hauch von Gefahr, der dem Leser schnell klar macht, dass sie mehr ist als nur eine charmante Besucherin. Die Darstellung von Carmilla als Vampir unterscheidet sich erheblich vom später etablierten Bild, das durch Figuren wie Dracula geprägt wurde. Sie agiert weniger als physische Bedrohung und mehr als psychologische Manipulatorin, die ihre Opfer wie eine Sirene in der Mythologie mit Charme und Verführung umgarnt. Dieses Konzept der Vampirfigur ist in „Carmilla“ durchgehend präsent und daher die hauptsächliche Triebkraft der Geschichte. Besonders in der Interaktion mit der naiven Laura entfaltet sich dieser Aspekt in einer Mischung aus psychologischem Terror und unterschwelliger Schwärmerei, die für die damalige Zeit bemerkenswert war. Jedoch ist der Handlungsverlauf von „Carmilla“ geprägt von einer gewissen Vorhersehbarkeit. Die nächtlichen Besuche schattenhafter Gestalten und die schleichende Offenbarung von Carmillas wahrem Wesen folgen einer klaren Linie, die moderne Leser kaum überraschen dürfte. Die Dialoge sind aufs Wesentliche reduziert und wirken mitunter etwas banal. Dennoch bleibt die Geschichte aufgrund ihrer dichten Atmosphäre und ihres altertümlichen Flairs fesselnd. Einen großen Anteil daran hat auch die Übersetzung von Eike Schönfeld. Sie bewahrt den nostalgischen Stil des Originals, ohne dabei antiquiert zu wirken. Der Text trägt moderne Züge, die einen leichten Zugang ermöglichen, wahrt jedoch gleichzeitig den historischen Charakter des Romans. Damit vermeidet Schönfeld die meinerseits oft kritisierte vollständigen Anpassung klassischer Werke an zeitgenössische Lesererwartungen, was der Authentizität zugutekommt. Als literarischer Vorläufer von „Dracula“ zeigt „Carmilla“ interessante Ansätze, insbesondere in der psychologischen Darstellung des Vampirs und der Thematisierung weiblicher Verführungskraft. Diese Aspekte machen den Roman auch heute noch lesenswert, besonders für Liebhaber klassischer Schauerliteratur. Gleichzeitig zeigt sich dem Werk aber auch sein Alter. Der Plot ist wenig komplex, die Figurenzeichnung bleibt oberflächlich, und sprachlich wie psychologisch fehlt es an Raffinesse, die man von moderner Literatur gewohnt ist. Dennoch: Als kurze, atmosphärische Lektüre bietet „Carmilla“ einen faszinierenden Einblick in die Ursprünge der Vampirliteratur und überrascht durch eine unerwartete zwischenmenschliche Beziehung seiner Protagonistinnen.