dorli
In seinem historischen Roman „Die Lungenschwimmprobe“ nimmt Tore Renberg den Leser mit in die 1680er Jahre nach Leipzig und erzählt von der Verteidigung der 15-jährigen Anna Voigt, die beschuldigt wurde, ihr Kind nach der Geburt ermordet zu haben. Dieser Roman ist anders, als ich erwartet hatte. Im Klappentext heißt es „Erzählt nach wahren Begebenheiten“ - eine Anmerkung, die mich immer anlockt. Meist wird dann ein historisches Ereignis mit reichlich stimmiger Fiktion verknüpft. Ich mag solche Geschichten sehr. Renberg hat mir ein etwas anderes Leseerlebnis beschert: hier steht die Historie dominant im Vordergrund, Fiktion scheint nur schmückendes Beiwerk. Ein Lückenfüller. Renbergs Schreibstil wirkt dadurch sehr sachlich. Wer hier eine emotionale und zu Herzen gehende Geschichte rund um Anna und ihr Schicksal erwartet hat, wird von diesem Roman enttäuscht sein. In der „Lungenschwimmprobe“ geht es um das Rechtssystem im ausgehenden 17. Jahrhundert und um den Beginn der modernen Gerichtsmedizin. Renberg hat mehrere Jahre intensiv recherchiert und aus den unzähligen Fakten über die damaligen Ereignisse und Persönlichkeiten ein sehr umfassendes und vor allen Dingen äußerst glaubwürdiges Bild von Zeit und Ort gezeichnet. Bei einer Lungenschwimmprobe handelt es sich um ein rechtsmedizinisches Verfahren, mit dem überprüft wurde, ob ein verstorbenes Neugeborenes womöglich nach der Geburt getötet wurde. Im Rahmen einer Obduktion wird ein Teil der Lunge in Wasser gelegt und beobachtet, ob diese sinkt oder schwimmt. Schwimmt die Lunge, so enthält sie bereits Luft in den Lungenbläschen und das Kind hat geatmet. Eine nicht belüftete Lunge von tot geborenen Kindern sinkt dagegen ab. Im Jahr 1681 führte der belesene Stadtphysikus Johannes Schreyer als erster Mediziner überhaupt diese Probe durch und erbrachte damit den Nachweis, dass Annas Kind tot zur Welt gekommen war. Doch die Stadtoberen hielten Anna weiterhin für schuldig und ein langjähriger Prozess nahm seinen Anfang. Im Mittelpunkt des Geschehens steht nicht - wie ich eigentlich vermutet hatte - die junge Anna, sondern der damals 26-jährige aufstrebende Jurist Christian Thomasius. Dieser hatte sich auf Bitte von Annas Vater bereiterklärt, die Verteidigung der Familie Voigt zu übernehmen. Im Verlauf der Handlung wird schnell klar, dass es dem Anwalt nicht nur darum ging, Annas Unschuld zu beweisen und sie vor der Todesstrafe zu bewahren. Thomasius, der heute als Wegbereiter der Frühaufklärung in Deutschland gilt, wollte die in den 1680er Jahren noch vorherrschenden mittelalterlichen Strukturen aufbrechen, für frischen Wind in Leipzig sorgen und Reformen durchsetzen. Besonders die miserable Verfassung des Gerichtswesens war ihm ein Dorn im Auge. Obwohl er großen Mächten gegenüberstand, scheute er sich nicht, die gesellschaftlichen Institutionen aufzurütteln und wissenschaftliche Neuerungen voranzutreiben, doch die Welt um Thomasius schien zu träge für sein Tempo und wehrte sich gegen Veränderungen und Umbrüche. Renberg erzählt die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven. Dabei erfahre ich gefühlt einfach alles über jede einzelne der handelnden Personen. Eine wahre Flut an Details. Auch viele Anmerkungen und Erläuterungen, die mit der eigentlichen Handlung und dem Gerichtprozess wenig bis gar nichts zu tun haben. Aber es sind gerade diese Nebensächlichkeiten und zusätzlichen Einblicke in die Historie, die mir die Möglichkeit gegeben haben, mich tief in die barocke Welt einzufühlen. Die damalige Stimmung zu spüren. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass Renberg jede Kleinigkeit recherchiert hat, damit jede einzelne Szene historisch korrekt dargestellt wird. Obwohl das Buch anders war, als ich es erwartet hatte, bleibe ich nach dem Lesen fasziniert zurück. Es war für mich äußerst spannend, das Miteinander und Gegeneinander an der Schwelle zu einer neuen Zeit zu beobachten und habe es als sehr gut gelungen empfunden, wie Renberg das Gerangel zwischen denen, die am Althergebrachten festhalten und denen, die Neuerungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen die Tür öffnen wollten, dargestellt hat. Es gibt eine Kleinigkeit, die mir nicht gefallen hat - statt eines gewohnten Anhanges am Ende des Buches, wird hier ein Link zum Download bereitgestellt. Ein kurzer Blick auf eine Karte oder mal eben eine Info zu den historischen Persönlichkeiten nachschlagen ist damit nicht möglich. Kein Beinbruch, dennoch hat es mich gestört.