zauberberggast
“Dann ist es geschafft, sie sitzt mit auf den Knien verschränkten Armen da und lässt den Kopf hängen. Hinter ihr schwimmt ein Haufen Scheibe in der Toilettenschüssel, und dem Geruch nach zu urteilen, befindet er sich nur teilweise unter Wasser. Sie dreht sich langsam um, wirft einen Blick auf die braunen Exkremente und macht sich an den mühsamen Prozess des Wischens.” (Rosalind Brown: “Übung”. Aus dem Englischen von Eva Bonné, Blessing Verlag, S. 200) Das von mir ausgewählte Zitat drückt, so mein Empfinden, sehr gut den Grundtenor des Romans "Übung” aus. Dass hier beschrieben wird, wie der Darm der Protagonistin entleert wird, ist etwas Besonderes. Die schmutzigsten Sexszenen finden sich zwar in der aktuellen Literatur zu Hauf, aber die Beschreibung der nicht so schönen alltäglichen körperlichen Vorgänge muss man - vor allem in der Belletristik - mit der Lupe suchen. Das Spiel zwischen dem Höchsten und Edelsten, was der Mensch zu vollbringen mag - nämlich Kunst, hier am Beispiel von Shakespeares Sonetten - und dem Niedrigsten - körperlichen Ausscheidungen - wird hier so raffiniert ausgeführt, wie ich es selten anderswo gelesen habe. Die Handlung des Romans spielt sich an nur einem Tag im späten Januar des Jahres 2009 im frostigen Oxford ab. Die Protagonistin, von der in der dritten Person gesprochen wird, “sie” also, heißt Annabel, ist 21 Jahre alt und studiert Englische Literaturwissenschaft auf Bachelor an der altehrwürdigen Alma Mater. Ihre Aufgabe ist es, bis zum morgigen Montag ein Essay über Shakespeares Sonette zu schreiben. Doch Annabel “prokrastiniert”: Während sie eine wissenschaftliche Abhandlung über die Sonette schreiben soll, macht sie alles andere. Die Sonette sind nur ein Denkanstoß, der sie über sich selbst, ihre Liebesbeziehung zu einem 15 Jahre älteren Arzt sowie vergangene Beziehungen und das Leben im Allgemeinen und Besonderen nachdenken lässt. “Übung” ist somit ein reflexiver Roman, die äußere Handlung besteht lediglich aus den Verrichtungen und den wenigen kurzen Begegnungen der Protagonistin an diesem einen Tag in ihrem Leben. Die Protagonistin reflektiert die prosaischen Umstände der Entstehung von Shakespeares Sonetten. Shakespeare, der unter Geldnot und vielleicht mit Hangover in einer schmutzigen Londoner Absteige Literatur am Fließband produzieren musste. Gleichzeitig sinniert sie über die elementarsten Dinge des Lebens nach. Zum Beispiel - es wurde eingangs bereits erwähnt - Körperfunktionen. Während sie auf der Toilette sitzt, denkt sie darüber nach, welchen genauen Weg ihr Urin nimmt. Oder dass sie immer zur gleichen Tageszeit, nämlich nach dem Abendessen im Gemeinschaftssaal, ihren Darm entleeren muss. Sie denkt auch über Sex nach. Sie führt eine lockere Fernbeziehung mit eben jenem 36-jährigen Arzt, die sich noch in der Anfangsphase des gegenseitigen Verzehrens nacheinander befindet. Liebessprache - ist die von Shakespeares lyrischem Ich gegenüber der “darky Lady” und dem “fair boy” so anders als die von Annabel gegenüber ihrem Arzt-Lover am Telefon oder per SMS? Auch Autoerotik bzw. Selbstbefriedigung ist ein Thema, das in einer ausführlichen Masturbationsszene ausgeführt wird. Es geht aber nicht nur um den Körper, sondern eben auch um den Geist, den Kopf, das Denken. Das “Wie” von Autorschaft - Wie kommen Texte zustande, diese Frage stellt sich: der Text. Autofiktion, Selbstreferentialität, Metafiktion? Alles das. Sowohl der Primärtext als auch der Sekundärtext, den die Protagonistin zu schreiben versucht, haben einen Entstehungsprozess. Und dieser wird immer wieder von der Studentin reflektiert und Rückschlüsse auf das eigene Schreiben gezogen. Schließlich wird die Protagonistin selbst zur Autorin. Es entspinnt sich in ihrem Kopf eine homosexuelle Liebesgeschichte zwischen einem “GELEHRTEN” und einem “VERFÜHRER”, die beide eigentlich “sie sind” (S. 174). Das ist der vielleicht philosophischste Teil des Romans. Der Roman ist auch eine Verbeugung vor dem Genie Shakespeares, das so übermächtig und groß ist, dass eine schriftliche Annäherung und Deutung ja Zerpflückung seiner Werke vermessen erscheint. Auch Virginia Woolf - so wird es im Nachwort zitiert - war einmal der Meinung dass angesichts von Shakespeares Genie alles weitere Schreiben redundant wäre. Annabel hat im Sommer, bevor die Handlung beginnt, Virginia Woolf für sich entdeckt und ist von ihrem Schreiben und ihrer Biographie absolut fasziniert. Der Roman “Übung” ist dementsprechend nach dem Vorbild von Virginia Woolfs experimentellen modernistischen Romanen konzipiert. Man denke nur an “Mrs. Dalloway”, ein Roman, der auch an nur einem Tag spielt und mit wenig äußerer Handlung vor allen die Gedanken der Protagonistin beleuchtet. In “Übung” geht es auch an manchen Stellen um die kleinen Tragödien des Lebens, die einem angesichts der großen Tragödien nichts anhaben sollten. Und dennoch: Welch großer Schmerz steckt in dem abgebrochenen Henkel des Lieblingsbechers, den man fortan nicht mehr richtig wird benutzen können. Kleine Abschiede, die wir mit uns selbst ausmachen, weil sie zu unwichtig und lächerlich wären für die anderen. Zudem: Die kleinen, feinen Nuancen, die unsere Stimmungen in die eine oder andere Richtung ausschlagen lassen - unser seismografisches Selbst. Es zeugt von großer schriftstellerischer Könnerschaft, das Kleinste und das Allerkleinste, das Alltägliche und das Banale literarisch so auszuarbeiten, dass es unser Interesse weckt, dass wir nicht einknicken vor dem Prosaischen, sondern es wie eine spannende Handlung verfolgen. Dass man sich beim Lesen tatsächlich oft ertappt und zuweilen sogar wie ein/e Voyeuer/in fühlt, das ist wirklich bravourös gemacht. Ich ziehe den Hut vor Rosalind Brown und der meisterhaften Übersetzung von Eva Bonné - 5 Sterne!