Buchdoktor
Ines Geipel flüchtete Ende August 1989 über Ungarn aus der DDR; sie ist vielen aus der Diskussion um staatlich verordnetes Doping in der DDR bekannt und Literaturinteressierten durch ihre Aktivität, die Dichterin Inge Müller bekannt zu machen. Ihre zentralen Themen sind u. a. Nationalsozialismus, DDR-Diktatur und die Umbrüche, die Kriegsende und Wiedervereinigung für Generationen bedeuteten, die zu dem Zeitpunkt in der Mitte des Lebens standen. Ihre eigene Fluchtgeschichte bringt in Erinnerung, dass bis zum Mauerbau 1961 knapp 4 Millionen Menschen die DDR verließen und praktisch aus dem Nichts eine neue Existenz schufen. Geipel beschreibt anschaulich die Endgültigkeit, mit der sie durch die Wiedervereinigung zur BRD-Bürgerin erklärt wurde. Da der Autorin jegliche Ostalgie fremd ist, konfrontiert sie ihre Leser:innen ungeschönt mit der Kluft, die zwischen dem Bild des funktionierenden sozialistischen Staates und der Realität der arbeitenden Bevölkerung klaffte. Am Beispiel von Holocaustleugnung, Ausländerfeindlichkeit und des Gesundheitssystems zeigt sie als frommen Wunsch auf, in der „Wärme des Kollektivs“ sei früher alles besser gewesen. Raum findet Geipels Familiengeschichte samt Flucht über die Ostsee und Bombardierung Dresdens und das erlebte Schweigegebot, das den erlebten äußeren Schrecken ertragbar machen sollte. Allein die Agententätigkeit ihres Vaters in Westdeutschland bis 1984 und der Lehrerinnenberuf ihrer Mutter bieten genug Anknüpfungspunkte für die systemkritische Betrachtung des vermeintlich besseren deutschen Staates. Loyalität ihres Vaters gegenüber dem Staat bedeutete für die Kinder der Geipels wie für viele Ostdeutsche ihrer Generation auch Illoyalität gegenüber Familie und Kindern. Hochinteressant war für mich, dass 1962 die Erkenntnisse der Bindungsforschung offiziell abgeschafft wurden, um die Krippenerziehung als Betreuungsstandard durchzusetzen und die (durch die hohen Flüchtlingszahlen) freien Arbeitsplätze mit Frauen besetzen zu können. Frauen- und Mutterbild im Sozialismus, der Problemkomplex aus Flucht, Neuanfang im Westen und staatlicher Schikane zurückgebliebener Angehöriger, die Folgen staatlich verordneter Entfremdung durch die deutsche Teilung, boshafter Sprachgebrauch beider Seiten, mangelhafte Überprüfung ehemaliger Stasi-Mitarbeiter nach 1989, Gerhard Schröders Gazprom-Connection, deutsche China-Politik, Flüchtlingssommer 2015 - Geipel lässt kaum einen der Konflikte aus, die gern geleugnet würden. Umfangreichen Literaturhinweise regen zur Vertiefung an, wie z. B. Maaz: Der Gefühlsstau: Psychogramm einer Gesellschaft (1990). Fazit Ines Geipel legt eine kompakte, faktenreiche, persönliche wie historische Bilanz der gesamtdeutschen Nachkriegsgeschichte bis in die Gegenwart des Ukrainekriegs vor. Auf drei Ebenen (ihre Biografie als Geflüchtete/Großeltern- und Elterngeneration, Stasi und das Schweigen/Ostalgie, Geschichtsklitterung und neue Schweigegebote) bietet ihr Buch die Chance, deutsche Empfindlichkeiten nachzuvollziehen, insbesondere die „Gekränkte Freiheit“ nach Carolin Amlinger/ Oliver Nachtwey.