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Buchdoktor

Posted on 1.11.2024

Im harten Winter 1852 kommt es in Karesuando/Gárasavvon nahe Pajala an der schwedisch-finnischen Grenze zur Begegnung zwischen dem jungen Rentierzüchter Ivaár und der Pfarrerstochter Willa. Ivaár war mit der Herde seiner Familie zurückgeblieben, als sein zu den Laestadianern bekehrter Vater Biettar Rasti beschloss, den nomadisch lebenden Sami als Prediger zu folgen. Die 19jährige Willa lebte als Tochter Lars Levi Læstadius mit zahlreichen Geschwistern in einfachsten Verhältnissen. Die Schicksale Ivaárs, Willas, ihrer Schwester Nora und der Züchtertochter Risten/Kristina sind verknüpft mit dem Überleben der Züchterfamilien, als die Grenze zu Finnland nicht mehr auf alten Rentierpfaden überschritten werden darf, sondern die Familien sich für einen Staat entscheiden sollen. Das Überleben der Kultur wird zusätzlich durch schwedische Siedler infrage gestellt, die keine durchziehenden Herden auf ihren Äckern dulden werden. Die Überlebensfrage kollidiert mit dem Profitstreben des Ladeninhabers Henrik, zugleich der Informant seines Onkels Bischof Frans Lindström, die beide aus Alkoholverkauf und der Verschuldung bei Henrik maximalen Profit schlagen wollen. Frans hat Söhne zur Schule zu schicken und Töchtern eine Aussteuer zu kaufen, die Umerziehung der Sami unter christlichem Mäntelchen reduziert sich auf sein Geschäftsmodell dafür … Während Willa lebensfremd von samischer Lebensweise träumt, in der sie jedoch allein eine Rolle als Arbeitskraft spielen würde, lernen Hanna Pylväinens Leser:innen u. a. Risten Tomma kennen, die keine Brüder hat, als äußerst erfolgreiche Züchterin keinen gleichberechtigten Partner findet und zwischen Ivaár und dem sehr viel ärmeren Mikkol schwankt. An Ristens Rolle, für die der samischen Kultur offenbar ein Vorbild fehlt, lernen wir Alltagdetails, über die ich so noch nicht gelesen habe und die den Versuch der Zwangs-Assimilation und -Bekehrung der Sami umso absurder wirken lassen. Der Umgang mit einer Rentierherde und zwischen Tierhaltern erfordert Empathie und Rücksichtnahme, die von Kindheit an durch Verantwortung für eigene Tiere entwickelt wird. Man selbst ist leicht zu beschämen und hat andere nicht zu beschämen, ein Konzept, das den Missionaren einer dominanten Kultur fremd ist, so dass ihr Scheitern unvermeidlich sein wird. Man mustert z. B. die Herde anderer Besitzer nicht, weil man an ihrer Größe und Gesundheit deren Reichtum und Ansehen abschätzen könnte. Als erfahrener Züchter muss man eine fremde Herde ohnehin nicht mustern, weil ihr Zustand hörbar ist. Eine große, selbstbewusste Herde klingt anders als eine kleine, weniger gut genährte Herde. Dass eine große Herde mehrere Arbeitskräfte erfordert und man nicht einfach seine Tiere mit einer anderen Herde mitlaufen lassen kann, versteht sich von selbst. An der Gemeinschaftsarbeit zeigt die Autorin sehr eingängig, wie eine samische Siida (Züchtergemeinschaft) funktioniert und dass die Mitglieder nicht miteinander verwandt sein müssen. Mit zahlreichen Figuren, mehrschichtigen Konflikten und Details der Rentierhaltung als Lebensgrundlage zeigt sich „Das letzte Leuchten im Winter“ als stimmungsvolle Lektüre mit Lars Levi Laestadius als historischer Figur. Mit der unheiligen Verbindung unter Bischof Frans aus Religion, Alkoholismus und Verschuldung können die Sami nur verlieren; Vertreter der Religionsgemeinschaft zeigen sich hier von ihrer übelsten Seite. Der mit Blick aus der Moderne verfasste/übersetzte Text sollte jedoch größeres Fingerspitzengefühl in der Wortwahl zeigen. Wessen Kinder um 1850 noch an Masern sterben und wer Wasser aus dem zugefrorenen Fluss holt, wird kaum „genervt“ sein, weil in dessen Epoche die zugrundeliegende Anspruchshaltung nicht existierte. Originaltitel: The End of Drum-Time, das Verbrennen der Trommeln = Ende der Kultur Fazit Mit seiner Detailfülle zum Leben samischer Rentierhalter im 19. Jahrhundert vor historischem Hintergrund konnte Hanna Pyläinens Roman meine Neugier erfolgreicher stillen als z. B. Ann-Helén Laestadius, die aus der Gegenwart erzählt.

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