Buchdoktor
In den 30ern des 19. Jahrhunderts und noch vor dem Amerikanischen Sezessionskrieg (1861-1865) gründete Eleanor, die sich fortan Saint nannte, nördlich von St. Louis einen imaginären/in den Wäldern unauffindbaren Ort als Zuflucht für ehemalige Sklaven. Die ehemals weiße Siedlung nennt sich nun „Ours“, ihre Bewohner werden „Ouhmey“ genannt. Saint verfügt über mächtige afrikanische Zauber und einen imponierenden hölzernen Zeremonienstab, um den sich geschnitzte Schlangenköpfe winden. Den Geretteten ist sie nicht geheuer. Man erzählt sich, sie sei eine erfolgreiche Rächerin, die Angriffe aller Art umkehren und ihre Angreifer töten kann. Weitere Figuren sind u. a. Saints adoptierte Zwillingskinder, auch sie ein mächtiger Zauber, um ihre Macht zu festigen, das Paar Miss Love (m) und Miss Wife mit ihrem begabten Sohn Luther-Philip, der später von Nachbarn aufgenommen wird und dessen Schulkamerad Justice. Philip B. Williams großer amerikanischer Roman, an dem er 20 Jahre lang arbeitete, hat keine Hauptfigur und fordert seine Leser:innen damit heraus, dass Figuren in mehreren Versionen ihrer selbst auftreten können, mit wechselnden Namen, tot und lebendig, als Täter und Opfer, mit noch offener Identität. Wenn afrikanischer Hoodoo-Zauber oder Schlangen-Magie ins Spiel kommen, kann Unwissen über magische Kräfte des Gegenübers unangenehm werden. Im Zusammenleben der Leute von Ours geht es u. a. darum, elternlose Kinder aufzunehmen und die Kultur versklavter Menschen wieder zusammenzufügen, die durch willkürlichen Verkauf von ihren Partnern, Kindern, Mitsklaven und den Gräbern ihrer Liebsten getrennt wurden. Soziale Elternschaft, das Heilen von Traumata und die Bewahrung von Erinnerungen lassen Elemente afrikanischer Kultur wie in einem Mosaik an ihren Platz fallen und bilden die Kultur Versklavter ab. Ich hatte den Eindruck, dass kulturelle Vielfalt in Ours als gegeben hingenommen wird; man nutzt, was sich bietet und wählt Sitten und Werte nicht ab. Williams Vorsatz, mit seinem 700-Seiten-Schmöker das Verschwinden der Geschichte der Sklaverei zu verhindern, könnte nicht aktueller sein. Es geht in seinem komplexen Plot um das Verhältnis von Freiheit, Sicherheit und Gewalt, darum, wen wir lieben, und nicht zuletzt um den Boden, den vor den Plantagenbesitzern schon andere Kulturen bewohnt haben. Der Roman spricht sicher Leser:innen von Colson Whitehead und Jesmyn Ward an. Ich finde ihn schwerer zugänglich durch die fehlende Identifikation mit einer Hauptfigur und die teils unscharfe Sicht darauf, wer gerade erzählt oder im Focus steht. Die Mosaiksteinchen, aus denen meine Einschätzung der Figuren wächst, tauchen teils unvermittelt auf, ergeben am Ende jedoch ein befriedigendes Gesamtbild. Erschwert wird das Lesen durch androgyne, teils willkürlich gewählte Vornamen, die Identitäten weiter verschleiern, die im dialoglastigen Text ohnehin sparsam beschrieben werden. Williams Händchen für stimmungsvolle Beschreibungen hätte ich gern stärker in der gegenseitigen Wahrnehmung der Figuren erlebt. In seinem Nachwort erzählt Williams, wie seine Mutter in seiner Kindheit eine Enzyklopädie afrikanischer Mythologie anschaffte, um die Dominanz griechischer Mythologie auszugleichen. Eine weise Entscheidung; denn sie bot die Basis für Williams fiktive Stadt, in der die Mythologie der Schwarzen überleben konnte.