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Buchdoktor

Posted on 1.11.2024

Auf einer Insel im Lake Champlain in Vermont lebt Ruby Chevalier mit ihrem alleinerziehenden Vater Lucas und dessen Mutter Clover. Hier sind die Leute stolz darauf, härter im Nehmen zu sein als Nicht-Insulaner, und die Reichweite des Telefonkabels bestimmt bei einigen heute noch, wo im Haus sie telefonieren können. Als eines Tages ein Anruf eingeht „Hier ist Nessa, deine Tante“, verschlägt es Ruby die Sprache. Von einer Tante hat sie noch nie gehört. Sie lebt hier mit Lucas und Clover, seit sie sich erinnern kann, weil ihre Mutter Deena eine unzuverlässige Person gewesen sei, hatte ihr Vater stets versichert. Mit wechselndem Focus auf Nessa Garvey und Ruby und mit zahlreichen Zeitsprüngen erfahren wir, wie Lucas in Philadelphia die depressive Deena kurz vor der Jahrtausendwende ihrem italienisch-irischen Familienclan entfremdete und sie nach der Geburt Rubys im Jahr 2000 praktisch einer Gehirnwäsche unterzog. Als Deena eines Tages nicht zur Arbeit erscheint und nicht wieder auftaucht, ahnt ihre ältere Schwester Böses. Sie wird Deena und Ruby vermutlich nicht wiedersehen; denn Väter wie Lucas, gegen die bereits wegen häuslicher Gewalt ermittelt wurde, haben rein statistisch ungewöhnlich gute Chancen, das Sorgerecht für ihre Kinder zugesprochen zu bekommen. Doch Lucas Idee, mit Ruby zu Clover zu ziehen, war offenbar nicht die hellste. Während das Leben mit ihm einem Minenfeld gleicht, sucht Ruby mit wachsender Raffinesse nach Deena. Von irgendwem müssen ja die gefütterten gelben Umschläge stammen, die Lucas so konsequent vor ihr versteckt. Tessa widmet indessen ihr Leben und ihr Vermögen der Suche nach ihrer Nichte – und ihre Familie wünscht sich, sie könne endlich loslassen. Rubys Situation verschärft sich, seit sie auf Drängen der Schulbehörde zur Schule geht. Bei jeder Kleinigkeit muss sie nun fürchten, dass Lucas vor anderen ausrastet und sie wieder vor Scham im Boden versinken möchte. Durch Rubys Geburtsjahr 2000 und die Jahreszahlen am Kapitelanfang lässt sich Rubys jeweiliges Alter trotz der Zeitsprünge leicht einordnen. Seit ihrem vierten Lebensjahr hat Lucas konsequent ihre Erinnerungen an Deena und alle Garveys ausgelöscht, als hätte es sie nicht gegeben. In Rubys Leben darf es keine Erinnerungsstücke geben, keine Anekdoten, kein Merchandising, keine Serien – und vor allem kein Internet. Da aus Lucas Sicht immer andere sich gegen ihn verschworen haben, verachtet er alles, jeden – und besonders die Behörden. Bei Nessas letzter Begegnung mit Lucas und der damals vierjährigen Ruby wirkte Rubys Vater auf mich wie ein durchgeknallter Agent, bei dem ich mir sicher war, dass seine Ideen meine absurdesten Fantasien noch in den Schatten stellen würden. - Das gelingt ihm tatsächlich. Eine spannende, berührende Geschichte, mit einer Portion Nature-Writing, eines meiner Lese-Highlights des Jahres.

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