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zauberberggast

Posted on 28.10.2024

Viele Menschen werden sich erinnern: Die Realverfilmung von “101 Dalmatiner” spülte nicht nur Millionen in die Kassen des Disney-Konzerns, auch Dalmatiner-Züchter*innen konnten gut davon leben. So ähnlich stelle ich mir den WG-Hype vor, nachdem "Wohnverwandtschaften” von Isabel Bogdan auf der Bestseller-Liste gelandet ist. Und ich meine nicht nur die jungen Menschen, die die traditionellen Anhänger*innen von Wohngemeinschaften sind. Auch die älteren Semester werden der Idee einer Koexistenz mit anderen, ihnen zunächst fremden Menschen plötzlich nicht mehr so abgeneigt sein. Aber nicht nur die Bestsellerlisten sind ein Indikator dafür, dass wir enger zusammenrücken müssen. Der aktuelle Wohnungsmarkt ist härter denn je, zu viel Wohnfläche für wenige Personen ein Klimakiller, der demografische Wandel, all das spricht für das Wohnmodell, das die “Golden Girls” schon im Amerika der 1980er Jahre gelebt haben. Isabel Bogdan hat aber nicht vier ältere Damen als Figuren für ihren Roman ausgewählt, sondern zwei Frauen und zwei Männer. Dies hat wahrscheinlich damit zu tun, dass Bogdan ihren Titel “Wohnverwandtschaften” an Goethes “Die Wahlverwandtschaften” angelehnt hat, wo dieselbe Geschlechterkonstellation vorkommt. Anders als bei Goethe sind Constanze und Murat, Anke und Jörg aber keine zwei Pärchen, sondern eine WG. Diese ist entstanden, weil Jörgs Frau Brigitte starb und die große Vierzimmerwohnung in Hamburg Altona wieder richtig bewohnt werden wollte und der Witwer Geld brauchte. Also sind zu dem pensionierten Journalisten Jörg (zu Beginn der Handlung 2022 ist er 78) noch die arbeitslose Schauspielerin Anke (53) und der selbständige It-Berater (Alter unbekannt) Murat sowie zuletzt die Zahnärztin Constanze (Alter unbekannt, aber ca. um die Vierzig) gezogen. Ich möchte etwas zur Leseerfahrung von “Wohnverwandtschaften” sagen. Das Buch zu lesen, ist, wie mehrere neue Folgen der Lieblingssendung am Stück zu schauen und sich danach mit einem mit Gemütlichkeit assoziierten Getränk zufrieden in die Sofakissen fallen zu lassen. Ein Wohlfühlbuch, ganz ohne Frage und genau dafür gedacht, den Lesenden schöne Stunden zu bereiten. Wie so ein Herbst/Winter-Gericht, wie heißt das noch, ach ja: Soulfood. Es geht auch ganz oft um das gemeinsame Essen in diesem Roman, denn Murat kocht sehr gut und baut sein eigenes Gemüse in seinem Schrebergarten (Laube heißt das glaube ich im Hamburger Raum) an. Das Rezept auf Seite 117 klang so köstlich, dass ich es sofort ausprobieren musste, denn: “...mit Birnen im Essen macht man nie was falsch.” Also ihr merkt schon: Alles sehr cosy, wobei die Handlung an sich eher traurig ist: Constanze und Murat hadern mit ihrer Vergangenheit; Jörg mit allen Zeitformen, denn diese verschwimmen immer mehr durch seine zunehmende Demenz. Anke hadert vor allem mit der Zukunft, in der sie als alternde Schauspielerin keine Jobs mehr zu bekommen scheint. Aber: sie haben alle einander und darum geht es - Einsamkeit gegen Gemeinsamkeit einzutauschen. Inhaltlich hätte ich mir gewünscht - und auch ein bisschen erwartet - dass es ein bisschen mehr um das Zusammenwohnen an sich geht. Also um das eigentliche Leben in einer WG, wer wen wann stört und wann mit dem Putzen dran ist, wer zu lange auf dem Klo hockt, was man zusammen macht, wie gelebt wird. Aber das wird nur am Anfang und dann am Rande ein bisschen erwähnt. Stattdessen sind wir vor allem in den vier Köpfen der Bewohner*innen, die jeweils ihre eigenen Päckchen zu tragen haben. Eigentlich dachte ich mir, dass der ganze Roman im Stil des letzten Kapitels geschrieben wäre. Aber so, wie es umgesetzt wurde, ist es auch gut. Erwähnenswert ist - neben dem wunderbaren Humor von Isabel Bogdan, der in all ihren Büchern die Tragik des Geschehens durchbricht - die hervorragende Darstellung der fortschreitenden Demenz bei Jörg. Mit Worten darzustellen, wie einem die Worte fehlen, wie der sprachliche Horizont immer kleiner wird, das ist schon bemerkenswert umgesetzt worden. Überhaupt ist die schon fast alltägliche Story von sehr durchschnittlichen Menschen (selbst die Schauspielerin kommt alles andere als abgehoben oder extravagant rüber) sehr warmherzig und die Lesenden sollen sich mit diesen Menschen, die sind “wie du und ich”, identifizieren können. Ein wirklich gemütlicher und Hoffnung machender Roman. Solltet ihr ihm ein Zuhause geben wollen, macht ihr bestimmt nichts falsch. Und pflegeleichter als ein Dalmatiner ist das Buch allemal.

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