wandanoir
Kurzmeinung: Auf den ersten Roman der engagierten Journalistin Akyol war ich extrem neugierig. VERSUCH EINER AUFARBEITUNG Çiğdem Akyol, 1978 in Herne geboren und inzwischen anerkannte Sachbuchautorin (Generation Erdoğan) und Journalistin, schreibt lose an ihrer eigenen Autobiografie entlang vom Schicksal der Gastarbeiterfamilie Güney, wobei sie sich auf die Mutter 1954 in Erzican als Aynur Güvenilir geboren, konzentriert. Erzählerin ist die Tochter Meryem Güney. Zur Sprache kommen viele Themen, Mutter-Tochter-Konflikte, Schwester-Bruder-Konflikt, Mutter-Bruder-Konflikte, Eheprobleme, Heimweh, Heimatlosigkeit, Sprachlosigkeit in jeder Hinsicht, ganz praktisch das Fehlen einer Verständigungsmöglichkeit im neuen Land, seelisch und sozial die Unmöglickeit der Aufarbeitung eines Traumas. Suizidversuche, Homosexualität, Kofferkinder, Vergewaltigung(en), Misshandlungen. Dazu die politischen Verhältnisse in der Türkei, ethisch-moralische Fragen um Schuld und Vergebung, also Familienkonflikte, Ehtik und Politik. Spielsucht. Entwurzelung. Religiösität. Und natürlich Vater-Kind- Konflikte. Der Kommentar und das Leseerlebnis: Der unerfreulichen Familiengeschichte mütterlicher- wie väterlicherseits lässt sich gut folgen und man hat alle Empathie der Welt für das entwurzelte junge Mädchen Aynur. Dieser Teil des Romans ist sehr gut gelungen. Ich mag es auch, wenn in Familiengeschichten Politisches miteingebunden ist. Aber die politischen Zusammenhänge in der Türkei wurden schnell unübersichtlich und außerdem werden sie viel zu beiläufig erwähnt. Um sie maßgeblich zu erhellen und ihnen den ihnen zustehenden entsprechenden Stellenwert zu geben, hätte der Roman wesentlich länger sein müssen. Plotholes und Brüche in der Handlung lassen Fragen offen: wie gelang es den offensichtlich durch ihre Herkunftsfamilie gebrochenen Kindern Meryem und Ada Güney eine erfolgreiche Journalistin bzw. ein erfolgreicher Architekt zu werden? Wieso konnte die sich nur mit einem Putzjob über Wasser haltende Mutter auch noch ihren wesentlich wohlhabenderen älteren Bruder Veysel in Istanbul finanziell unterstützen und wenn sie dessen Wohnung in Istanbul mit abbezahlte, warum gehörte sie ihr dann nicht ? Das Wechselspiel von Elternliebe und der Notwendigkeit sich abzuwenden, um sich zu retten, die Erzählung von Schuld und Vergebung und die Zerrissenheit der zweiten Generation kommt zwar rüber, aber dennoch gibt es in dieser Darstellung noch Luft nach oben; da ist manches wirr und zusammenhanglos. Innensichten sind zu kurz gehalten; es entsteht der Eindruck eines Berichts mehr denn der einer Erzählung. Fazit: In der Literatur ist die Thematik insbesondere der türkischen Gastarbeiter und ihrer Ehefrauen und Kinder noch immer unterbehandelt. Insofern begrüße ich jeden Roman auf diesem Gebiet. Die türkischen Einsprengsel sind charmant und mögen noch mehr Menschen dazu animieren, türkisch zu lernen! Erzählerisch wird zu viel auf einmal gewollt, da ist noch die sprichwörtliche Luft nach oben, aber ein guter Anfang ist gemacht: durchaus lesenswert! Kategorie: Debüt-Roman. Gute Unterhaltung. Verlag: Steidl, 2024