herbstrose
Ein Wolf im Schafspelz Sie war sieben, acht oder neun Jahre alt, sie weiß es nicht mehr so genau, als die Autorin zum ersten Mal von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht wurde. Um den Familienfrieden nicht zu gefährden schwieg sie, vertraute sich niemandem an. Worüber man nicht spricht, das gibt es auch nicht, das war ihr Gedanke. Das ging so weiter, manchmal täglich, bis Neige etwa fünfzehn Jahre alt war, dann hörte er auf. Aber auch jetzt schwieg sie noch. Erst im Alter von zwanzig Jahren, als sie mit dem Studium begann und von zu Hause auszog, vertraute sie sich ihrer bis dahin nichtsahnenden Mutter an. Um ihre jüngeren Geschwister nicht derselben Gefahr auszusetzen, entschlossen sich beide Frauen, gemeinsam Anzeige zu erstatten … Neige Sinno ist eine französische Schriftstellerin und Übersetzerin, die 1977 in Vars/Haute-Alpes geboren wurde. Sie studierte in den USA Amerikanische Literatur. Neben einigen Fachtexten veröffentlichte sie bisher eine Erzählsammlung und einen Roman. „Triste Tigre“ (2023) „Trauriger Tiger“ (2024) ist ihr zweiter Roman, für den sie bereits zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen erhielt. Seit 2006 lebt die Autorin in Pátzcuaro in Mexiko und unterrichtet Interkulturelle Literatur an der Escuela Nacional in Morelia. Der Roman „Trauriger Tiger“ (dtv 2024) ist der Versuch, die als Kind erlittene jahrelange Vergewaltigung durch ihren Stiefvater durch Schreiben aufzuarbeiten. Ob Neige Sinno das gelungen ist, kann nur sie selbst beantworten. Gelungen ist ihr jedenfalls, ihre Leserschaft tief zu berühren und zu erschüttern. Man bewundert den Mut und die Entschlossenheit des kleinen Mädchens, ihren Kampf um Normalität und ihren Willen zu leben und zu überleben und ist gleichzeitig überrascht, wie schwer es der erwachsenen Frau heute, über 30 Jahre nach Ende der Vergewaltigungen und 25 Jahre nach ihrer Anzeige, immer noch fällt, darüber zu reden. Immer wieder sucht sie Orientierung in der Literatur, zitiert Annie Ernaux und Virginia Woolf, liest über vergewaltigte Kinder bei Faulkner, Zola und Foster Wallace und erwähnt immer wieder den Roman Lolita von Nabokov. Sie beleuchtet das Thema von allen Seiten, berichtet über das Verhör des Stiefvaters, die Reaktion der Mutter nach dessen Verurteilung und studiert Statistiken zu ähnlichen Fällen. Ihr Schreibstil dabei ist radikal ehrlich, sie schont niemanden und beschönigt nichts. Wohltuend ist zu vermerken, dass die ausführlichen Beschreibungen der Taten zwar vorhanden, aber nur ganz selten erwähnt werden. Fazit: Ich wünsche dem Buch eine aufgeschlossene Leserschaft und empfehle es sehr gerne weiter!