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*Beeindruckende literarische Zeitreise* Mit ihrem neuesten Roman „Am Himmel die Flüsse" ist der renommierten und vielfach ausgezeichneten türkisch-britischen Autorin Elif Shafak erneut ein beeindruckendes und sehr bewegendes Werk gelungen, das zum Nachdenken und zu weitergehenden Recherchen anregt. Hierin erzählt uns Shafak eine fesselnde, Jahrhunderte umspannende Saga, die sich um drei faszinierende Charaktere - Zaleekhah, Narin und Arthur - rankt, die jedoch geografisch und zeitlich durch verschiedene Epochen voneinander getrennt sind. Als besonderes literarisches Stilmittel verbindet Shafak ihre drei Hauptfiguren durch einen einzigen kostbaren Regentropfen, der durch einen sich wiederholenden „ewigen“ Kreislauf von Fallen, Kondensation, Aufsteigen, Gefrieren und Auftauen durchläuft, sich auf einer langen Zeitreise befindet und zugleich mit jedem Charakter in einer gewissen Weise interagiert. Typisch für ihren anspruchsvollen Erzählstil hat Shafak eine vielschichtige, hochkomplexe Handlung angelegt, in der sie geschickt verschiedene Zeitebenen und Erzählstränge miteinander verwoben hat. Sie lässt in ihrer raffiniert angelegten Geschichte nicht nur Ereignisse und kulturelle Traditionen aus Vergangenheit und Gegenwart aufeinandertreffen, sondern versteht es auch hervorragend historische Ereignisse sowie ewigwährende und aktuelle Probleme, die in religiösen und politischen Konflikten begründet liegen, mit ganz persönlichen Schicksalen ihrer Figuren zu verknüpfen und uns deren nachhaltige Auswirkungen auf das Leben der einzelnen Menschen äußerst detailliert und anschaulich vor Augen zu führen. Durch die eindringliche Behandlung von gesellschaftlichen und persönlichen Themen gelingt es ihr, ein lebendiges, vielfältiges und authentisches Bild von Kultur und bewegter Historie zu zeichnen und darüber hinaus bedeutsame Fragen zu Identität, Vertreibung, kulturellem Erbe, Folgen des Kolonialismus und zur politischen Situation in der Region aber auch zu Menschenrechten und zur Rolle der Frau in der Gesellschaft aufzuwerfen. Zugleich vermittelt sie uns spannende tiefgründige Einblicke in das Leben der Eziden, die uralte komplexe ezidische Kultur und die tragische Geschichte dieser schon im osmanischen Reich verfolgten Minderheit. So rankt sich auch die Geschichte auch um Ninive - die bedeutende antike Stadt in Mesopotamien und letzte Hauptstadt des assyrischen Reiches am östlichen Ufer des Tigris gelegen. Sie symbolisiert die Blüte und den Fall dieses mächtigen Imperiums und spielt somit eine wichtige Rolle in der Geschichte des alten Nahen Ostens. Der lebendige, poetische und sehr bildreiche Schreibstil der Autorin ist sehr ansprechend. Er lässt sich wegen des ausschweifenden Stils zwar nicht immer leicht lesen, konnte mich aber rasch in die schillernde Welt der Geschichte ziehen. Der Roman ist auf drei unterschiedlichen, einander abwechselnden Zeitebenen angelegt, die von der Antike bis zur Gegenwart reichen. Auf der historischen Zeitebene lernen wir den cleveren Jungen Arthur, 1840 am Ufer der Themse als „König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere" geboren, seinen Überlebenskampf in extremer Armut und seine erstaunliche Lebensgeschichte im spätviktorianischen London kennen. Im Fokus eines weiteren, im Jahr 2014 angesiedelten Handlungsstrangs steht das bewegende Schicksal des 9-jährigen, ezidischen Mädchens Narin und ihre Erlebnisse rund um die brutale Vertreibung aus ihrem Dorf Hasankeyf am Tigris im Zuge eines großen Dammbauprojekts der türkischen Regierung. Im Handlungsstrang der Gegenwart von 2018 begegnen wir schließlich der Hydrologin Zaleekhah, die wegen ihrer Ehekrise auf ein Hausboot auf der Themse gezogen ist. Gekonnt schafft die Autorin faszinierende Berührungspunkte zu den verschiedenen Handlungsstränge und verwebt diese zu einer mitreißenden und bewegenden Geschichte, die schließlich alle drei Charaktere 2018 am legendären Tigris zusammenführt. Durch einen Wechsel der Perspektiven und den verschiedenen Schauplätzen wird der Spannungsbogen allmählich immer mehr gesteigert. Sehr informativ und fesselnd war für mich insbesondere der sorgsam recherchierte historische Handlungsstrang, der uns mit den facettenreichen Einblicken in die sozialen Verhältnisse und beklemmenden Lebensbedingungen jener Zeit in eine längst vergangene Welt eintauchen lässt. Auch der bewegende Erzählstrang rund um Narin, ihre abenteuerliche Reise mit der Großmutter ins heilige Lalisch-Tal, ihr trauriges Schicksal sowie die eindrucksvollen Rückblenden zu den Ahnengeschichten haben mich mit seiner Intensität hat er völlig in den Bann gezogen. Hervorragend ist der Autorin die einfühlsame, vielschichtige Figurenzeichung ihrer Protagonisten gelungen, die mit ihren geschilderten Beweggründen und inneren Konflikten sehr lebendig und glaubhaft wirken. Ein besonderes Highlight war für mich die liebevoll und authentisch ausgearbeitete Figur von Arthur und seinen bemerkenswerten Talenten, die auf einer realen historischen Persönlichkeit basiert. Auch Narins beklemmendes Schicksal und ihrer ezidischen Familie konnte mich sehr fesseln. Die faszinierenden Einblicke in die ezidische Kultur, ihre Traditionen und historischen Hintergründe sind sehr stimmig veranschaulicht und lehrreich. Abgerundet wird der Roman durch ein interessantes Nachwort, in dem die Autorin ausführlich auf den historischen Kontext und zahlreichen überlieferten historischen Fakten ein, die sie im Rahmen ihrer fundierten Recherchen zusammengestellt hat, aber auch ihre künstlerischen Freiheiten, die sie sich genommen hat. FAZIT Ein anspruchsvoll erzählter und sehr beeindruckender Roman, der uns tief in die Historie eintauchen lässt, zum Nachdenken anregt und noch länger nachwirkt!