anne_hahn
Dies ist ein Roman über eine Suchende, eine Schaffende. Kunstvoll verwebt die Autorin das Leben einer römischen Frau aus dem Mittelstand mit Ereignissen ihrer Zeit - Plautilla Bricci, genannt Briccia (1616–1705), war Architektin, Malerin, Künstlerin und Mitglied der Accademia di San Luca. Sie durchlebte Pest, Armut, Hochwasser, kriegerische Auseinandersetzungen und kirchlich-politische Intrigen. Gleich in der ersten Szene strandet ein Wal und die Römer pilgern hinaus vor die Tore der Stadt, um sich sich das sagenhafte Wesen anzuschauen. Unter ihnen das Kind Plautilla und ihr Vater: "Außerhalb der Stadtmauern war Rom zu Ende. Plötzlich. Ich hatte immer in engen, dunklen Gassen gewohnt, wenn ich beim Fenster hinausblickte, konnte ich nahezu die Mauer des Hauses gegenüber berühren. Ich konnte es fast nicht glauben: eine unendlich weite Landschaft, ein Gewirr von dunklen Mäuerchen, die unsichtbare Anwesen begrenzten, grüne Vierecke, soweit der Blick reichte, und dazwischen schnurgerade Weinreben oder Flecken mit Wäldchen und Gestrüpp." Der Stil des Romans ist sehr lebendig, mitreißend. Wir lernen die eingeengte Welt des Mädchens kennen, die so gar nicht für die ihr vorgesehene Rolle taugt, zum Glück hat sie einen (Lebens-)Künstler zum Vater, der sie davor bewahrt, ihre Talente verkümmern zu lassen. Sie darf malen und lesen, träumen und hoffen - nur ausgehen darf eine Frau im Rom des 17. Jahrhunderts nicht allein. Wir erleben ganze achtzig Jahre ihres Daseins mit, immer wieder sind bestimmte Momente wie unter der Lupe herangezoomt. Die Grenzen ihres Alltags werden aufgezeigt und das Wunder, darin ein erfülltes Leben zu gestalten. Mit viel Phantasie und vor allem spürbar jahrelanger Recherche ist es Melania G. Mazzucco gelungen, ein lebensechtes Porträt zu schaffen, beeindruckend! Schon ihr Roman "Die so Geliebte" über Annemarie Schwarzenbach hatte mich begeistert, war dieser aber teilweise noch melancholisch bis pathetisch geraten, herrscht hier Klarheit und Schärfe. Mazzucco zeigt gnadenlos auf, was es heißt, eine Außenseiterin zu sein, seine künstlerischen Fähigkeiten aufzubauen und zu hegen, zu hinterfragen und anzuzweifeln. Und doch immer weiterzumachen. Das Staunen nie zu verlernen. Ein anrührendes Buch über das Wesen der Kunst, ein vielschichtiges Frauen-Porträt des 17. Jahrhunderts sowie eine aufregende Zeitreise in ein unbekanntes Rom! Besonders wertvoll! Zitat der Anfangsszene: „Ich starrte auf den Wirbelkamm, an dem sich schäumend die Wellen brachen. Ich kniff die Augen zusammen und betrachtete den Horizont, in der Hoffnung, die Wasserfontäne eines anderen Wals zu entdecken. Doch auf der Wasseroberfläche trieben nur die Schleppnetze der Fischer von Santa Marinella, und weiter draußen fuhr ein Schiff mit weißen Segeln Richtung Porto Ercole. In unserem Meer gibt es keine Wale, Plautilla, sagte mein Vater nachdenklich. Doch das heißt nicht, dass sie nicht existieren. Deshalb ist mir dieser Zahn kostbar, ich werde ihn immer bei mir behalten. Er ist ein Versprechen, verstehst du? Auch die Dinge, die wir nicht kennen, existieren irgendwo. Wir müssen sie suchen oder erschaffen.“