zauberberggast
“Ich muss was machen. Werfe einen Blick nach draußen. Die Dunkelheit fällt herab wie ein schwerer Vorhang, dieser Tag hat seine Vorstellung gespielt. Doch für mich ist er noch nicht vorbei.” (S. 237) Der Tod, der für uns nicht (da) ist, solange wir sind - um es mal (pseudo) philosophisch auszudrücken - hat, so sagt man im Volksmund, einen "Bruder". Kein Zustand während unseres existenziellen Daseins kommt dem Tod näher als der Schlaf. Im Schlaf, diesem todesähnlichen Etwas, verbringen wir ein Drittel unseres Lebens. Doch während der Tod die Auslöschung unseres Bewusstseins darstellt, fördert der Schlaf das Unterbewusstsein zutage, indem er uns träumen lässt. Doch was ist, wenn die Traumreste plötzlich anfangen, unser Leben zu bestimmen? Wenn - wie es bei Calderon heißt - “das Leben ein Traum” wird? Die Protagonistin von Melanie Raabes neuem Roman “Der längste Schlaf”, Prof. Dr. Mara Lux ist ein Widerspruch in sich: Sie hat sich als Neurowissenschaftlerin den Schlaf als Forschungsgebiet auserkoren und leidet selbst an Insomnia - Schlaflosigkeit. Was diese hervorgerufen hat, möchte ich hier nicht spoilern, denn es ist einer der “Antriebsmotoren” des Plots. Mit 10 Jahren hat Mara durch einen Autounfall an ihrem Geburtstag beide Eltern verloren - das Trauma sitzt tief. Dennoch konnte sie sich eine erfolgreiche Karriere als Neurowissenschaftlerin an der Universität (King's College London) aufbauen. Zu Ihrem Herkunftsland Deutschland, das sie mit 19 Jahren verlassen hat, um sich in London niederzulassen, hat sie fast alle Brücken abgebrochen. Einzig zu ihrer besten Freundin Roxi aus Frankfurt, mit der sie in einer Pflegefamilie aufgewachsen ist, hat sie dort noch Kontakt. Eines Tages erhält sie eine Email von einem Notar aus Deutschland - ein alter, ihr völlig unbekannter Mann hat Mara ein Herrenhaus in einem kleinen Ort namens Limmerfeldt vermacht. Mara reist nach Deutschland, und die Reise zu ihrem unverhofft Erbe wird für sie eine Reise zu sich selbst… Das "unheimliche Herrenhaus-Motiv” und ich, wir sind gute Freunde. Spätestens seit “Jane Eyre” ist das mein liebster Trope in Kriminal- und Spannungsromanen. Raabe hat das Motiv meisterhaft in ihrem Roman umgesetzt - das Haus ist unheimlich und anziehend zugleich sowie ein starkes Symbol für das Traumhafte bzw. Unterbewusste, das sich in diesem Buch einen Weg in die Realität zu bahnen versucht. Symbolik und Metaphorik finden wir überall in der märchenhaften Topographie von Limmerfeldt, seinen Fachwerkhäusern und verwinkelten Straßen, aber auch seinen Menschen und Tieren. Hier steckt noch so viel mehr drin, als einem beim ersten Lesen bewusst wird - davon bin ich überzeugt. Die sehr klare, ungekünstelte Prosa bildet einen wunderbaren Kontrast zur oft irrationalen Handlung. Zudem merkt man, dass sich Melanie Raabe eingehend mit der Sekundärliteratur zum Themenkomplex Schlaf und Traum beschäftigt hat. Wer dieses Buch liest, sollte wissen, dass man es mit einem Pageturner zu tun bekommt, der einen nachts nicht gut einschlafen lässt, weil man immer weiterlesen möchte. Ein gekonnter, intelligent geplotteter Mix aus literarischem Roman, Mysterythriller und dem Genre “magischer Realismus” - ein Buch also, auf das man sich komplett “einlassen” muss, um es genießen zu können. Und wenn man es ausgelesen hat, schließt sich förmlich ein Kreis zwischen der schlaflosen Protagonistin und uns Lesenden: Wir können uns wieder dem Schlaf hingeben und hoffen, dass wir aus diesem traumhaften Buch mit dem wunderschönen Cover nur gute und keine Albträume mitgenommen haben, denn gerade das Ende bzw die Auflösung könnte sich für manch sensible Person als Trigger erweisen. Trotz dieses kleinen Wermutstropfens möchte ich aber eine 99,99%ige Leseempfehlung für dieses großartige Buch aussprechen.