zauberberggast
“Ich hätte niemals so viele Schüsseln Milchsuppe von ihm annehmen dürfen. So viel Wärme und so viel heißen Leberpudding. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass er mir sein Bett überlässt oder dass er mir Socken und eine Mütze strickt und meinen Mantel ausbessert. Ich hätte ihn nicht ermuntern sollen, mir stundenlang seine eigenartige und komplizierte Sprache beizubringen.” (S. 167) Wenn man als Leser:in in ein Buch “hineingehen” könnte - völlig inkognito, also ohne die Charaktere zu stören oder die Handlung zu unterbrechen - dann würde ich in “Ein klarer Tag” von Carys Davies (Original “Clear”, für Luchterhand aus dem Englischen übersetzt von Eva Bonné) gehen wollen. Ich würde mich auf der fast einsamen kleinen schottischen Insel umsehen, die salzige Seeluft einatmen und dann beobachten, wie Ivar strickt und spinnt, mit seiner alten Stute Pegi spricht und den Geistlichen John Ferguson gesund pflegt. Ivar und John sind zwei, die sich die Gesellschaft des jeweils anderen nicht ausgesucht haben und dennoch für mehrere Wochen auf einem einsamen Eiland in der schottischen Nordsee - knapp vor Unst, der nördlichsten Shetland-Insel, koexistieren müssen. Der Roman ist ein historischer, denn er spielt im Jahr 1843. Die Autorin erklärt in einem Nachwort den komplexen geschichtlichen Hintergrund, der mit der Gründung der schottischen Freikirche und der Vertreibung von ganzen Dorfgemeinschaften durch geldgierige Großgrundbesitzer zu tun hat. Ivar ist der, der als einziger verbliebener menschlicher Bewohner von der Insel vertrieben werden soll. Im Auftrag des Besitzers der Insel hat der freikirchliche Pfarrer John Ferguson diesen Auftrag angenommen, um sich und seine Frau Mary weiterhin durchbringen zu können. Ich will nicht zu viel von der Handlung verraten, aber wer “Brokeback Mountain” von Annie Proulx mochte oder “Die Tage des Wals” von Elizabeth O'Connor, der wird “Ein klarer Tag” lieben. In diesem Roman spielt das Thema Sprache eine große Rolle. Die altertümliche Inselsprache, die Ivar spricht, ist höchst differenziert und hat für die unterschiedlichsten Zustände und Ereignisse ein eigenes spezielles Wort (siehe Glossar am Ende). Sie ist der bereits 1845 ausgestorbenen Sprache “Norn” nachgebildet, die auf den nördlichsten schottischen Inseln gesprochen wurde. Hier bezeichnen zum Beispiel die Wörter “skump”, “gyolm”, “dunk”, “syora”, “mirkabrod”, “blura” - und andere mehr - unterschiedliche Formen von Nebel. Besonders loben sollte man an dieser Stelle die Übersetzerin Eva Bonné, die eine besonders schwierige Aufgabe hatte und sie perfekt umgesetzt hat. John, dessen Muttersprache Englisch ist und der gut Schottisch kann, ist fasziniert davon und versucht sich die Sprache anzueignen. Schließlich nähern sich die beiden so unterschiedlichen Männer - der eine ein eremtischer Naturmensch, der andere ein gebildeter Priester - über die Sprache an. Aber auch der nonverbalen Kommunikation als ureigenem Ausdrucksmedium des Menschen wird in Roman eine Bühne verliehen. Wo Sprache nicht weiterhilft, kommen Blicke, Gesten und körperliche Bewegungen zum Einsatz. Auch dem Tanz ist die wahrscheinlich berührendste Stelle des Romans gewidmet. Dies ist ein so rohes, so ursprüngliches und wahrhaftiges Leseerlebnis voller echter Emotionalität. Künstlerisch, ohne artifiziell zu sein. Poetisch, ohne jemals kitschig zu werden. Ungefiltert und trotzdem randvoll mit natürlicher Schönheit, mit der es uns blendet wie das helle Licht eines klaren Tages, das sich für immer in unser Gedächtnis einbrennt. Eines der schönsten, besten Bücher, die ich jemals gelesen habe.