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Buchdoktor

Posted on 12.9.2024

Neige Sinno wuchs auf mit ihrer Mutter Sylvaine, einer jüngeren Schwester, Stiefvater und zwei weiteren jüngeren Kindern aus dessen Ehe mit ihrer Mutter. Ungefähr vom 7. Lebensjahr an erlitt sie sexuelle Gewalt durch den Stiefvater und hatte lange Probleme, auszudrücken, was mit ihr geschah. Der Täter war ein charismatischer, angesehener Bergführer, der von Menschen stets Gehorsam erwartete. Er zählt zu einer Tätergruppe, deren Handeln gern relativiert wird (ein Mann wie er würde das nie tun, würde seinen biologischen Kindern nichts antun, hatte auch gute Seiten…), was zu Victimblaming führt und zum Abschieben der Verantwortung auf das Kind. Wir sprechen hier von einem Täter, den der Gutachter im Prozess als „narzisstischen Perversen mit sadistischen Neigungen“ bezeichnete. Relativiert wird durch das Umfeld, Medien und durch den Täter selbst (sie wollte es, sie respektierte mich nicht, ich wollte sie auf das Leben vorbereiten). Charakteristisch finde ich, dass die Familie jahrelang als Zugezogene im Ort abgeschieden auf der Baustelle ihres Hauses lebt und kaum soziale Kontrolle stattfindet. Erst als Neige Sinno in der Pubertät Worte findet, um mit einer Freundin zu sprechen, als sie unbedingt ihre jüngeren Geschwister schützen will und als ein erheblich älterer Mentor sich entschlossen für sie engagiert, kann sie mit ihrer Mutter sprechen und die erlittene sexuelle Gewalt anzeigen. Der Entschluss ihrer Mutter, selbst Anzeige zu erstatten, zieht sich allerdings hin, da die Familie den einzigen Ernährer verlieren wird und die Mutter erst ihre Ausbildung abschließen will. Die Autorin beschreibt explizit und strukturiert, was ihr angetan wurde und verdeutlicht, dass es bei sexueller Gewalt nicht um Sex, Anziehung oder Verführung geht, sondern um Macht, Manipulation (dem Kind Einvernehmlichkeit suggerieren), Erniedrigung, Strafe und Scham. Sinno ordnet die Einzelthemen wie ein Vieleck an, dessen Ecken sich verbinden lassen. Es sind: ihre Motivation, dieses Buch zu schreiben; Persönlichkeit des Täters; Rolle der Mutter, Rolle ihres biologischen Vaters; ihre Situation als Überlebende (Opfer) damals und heute; Scham, Sprachlosigkeit, Finden einer Sprache; Lügen und inszeniertes Familienbild; Anzeige + Prozess, Unterstützer + Rückhalt + Anwältin; Trauma, Erkrankung, ACE-Werte (= Adverse Childhood Experiences); Darstellung in Film und Literatur + Literatur als Chance die eigenen Stimme zu finden + der „Markt“ für biografische Texte; Weggehen + Auswandern). Der vielstimmige Text, den die Autorin leicht ironisch „mein kleines Memoir“ nennt, liefert keine Betroffenheitsprosa. Obwohl Sinno keine Therapie absolviert hat, schreibt sie sachlich als Betroffene, psychiatrischer Laie und als Literaturwissenschaftlerin. Da ich mich lange mit dem Ermächtigen von Kindern befasst habe, über Erlittenes zu sprechen, und die Rolle von Institutionen und Kinderliteratur in dem Prozess, hat mir Neige Sinnos Bericht die Augen geöffnet, was noch zu tun bleibt. Wir müssen sehr viel aufmerksamer und direkter auf Relativieren und Verharmlosen sexueller Gewalt reagieren – und das besonders in Literatur und Medien. Fälle wie dieser dürfen nicht länger unter der Überschrift „Zärtlichkeiten“ vermarktet werden und die Ermächtigung von Kindern, über Gewalterlebnisse zu sprechen, darf Zensuraktivitäten konservativer Kreise nicht zum Opfer fallen. Fazit Als strukturierter biografischer Text ist „Trauriger Tiger“ aus meiner Sicht ein Buch, das jede und jeder lesen sollte, es passt jedoch ebenso gut ins Fachbuch-Regal aller, die beruflich und ehrenamtlich mit Kindern zu tun haben.

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