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seeker7

Posted on 1.9.2024

Dieses Buch über eine junge, mutige, emanzipierte Frau wurde von einem Mann geschrieben und wird hier von einem alten weißen Mann rezensiert. Kann das gutgehen? Dieses Buch handelt deshalb vom Fliegen, weil sich die Protagonistin – eine reale Person namens Amelia Earhart, als Weg zu ihrer Selbstfindung, zu ihrem Ausbruch aus Rollenklischees und zum Ausleben ihres unbändigen Freiheitsbedürfnisses spektakuläre Grenzerfahrungen am Steuerknüppel von Flugzeugen gewählt hat. Wäre sie durch ihre Energie, ihre Abenteuerlust und Tollkühnheit in eine andere Richtung getrieben worden, wäre möglicherweise ein Buch über eine Artistin oder Bergsteigerin entstanden. Obwohl es also vermeintlich thematisch um den Menschheitstraum “Fliegen” geht, handelt das Buch im Kern von einer sehr besonderen Frau und ihrer faszinierenden Biografie. Wie man dem Cover des Buches entnehmen kann, befinden wir uns nicht im Zeitalter der großen Passagier-Jets, sondern in der Anfangsphase der Fliegerei, in der die Maschinen noch winzig, extrem unkomfortabel und in einem kaum mehr vorstellbaren Maße den Kräften der Natur ausgeliefert waren. Natürlich war die abenteuerliche und extrem gefährliche Sache damals (in den 20iger Jahren) zunächst eine reine Männerdomäne. So gab es wohl kaum einen anderen Bereich, in dem die ersten weiblichen Akteure mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnten. Amelia war die erste Frau, die bei einer Atlantik-Überquerung mitflog; einige Jahre später (1932) überquerte sie den Ozean im Alleinflug. Das Buch selbst beginnt allerdings mit dem letzten ultimativen Abenteuer: dem 1937 gestarteten Versuch, den gesamten Erdball in Äquatornähe zu umfliegen. Von seinem offenen Ende aus verfolgen wir die entscheidenden Stationen dieser faszinierenden Frauen-Biografie entgegen der Chronologie, rollen also die Entwicklung dieser Ausnahme-Persönlichkeit von hinten auf. Dabei lernen wir eine Frau kennen, die nicht nur an technischen und körperlichen Grenzen rüttelt, Rollenerwartungen auf den Kopf stellt und so zu einem weltweiten Vorbild für die Idee der Emanzipation wird. Experimentierfreudig und kompromisslos lebt sie auch ihre Vorstellungen von Beziehung, Lust und Liebe aus – einschließlich eines sehr persönlichen Kontaktes zur Präsidenten-Gattin Eleanor Roosevelt. Grundlage für dieses packende und lebendige Buch bilden persönliche Aufzeichnungen der Protagonistin. Fairerweise macht der Autor selbst darauf aufmerksam, dass somit in großen Teilen Amelia Earhart dieses Buch selbst verfasst habe. Trotzdem gebührt dem Schriftsteller und Verleger LENDLE die Anerkennung für die Ausgestaltung dieses berührenden biografischen Romans. Allein die ungewohnte Zeitperspektive ermöglicht eine erhellende Betrachtung der inneren Logik der jeweiligen Entwicklungsschritte. Von dem (bekannten) Ergebnis her, gewinnen sich die vorausgegangenen Episoden eine raffinierte Zwangsläufigkeit. Das Lesen dieses Buches bereitet auf mehreren Ebenen Vergnügen: Es liefert auf unterhaltsame Art zeitgeschichtliches Wissen, feiert mir psychologischem Feingefühl eine wahrhaft starke Frauen-Persönlichkeit, lässt aber auch einen Blick auf die Abgründe einer schier grenzenlosen Risikobereitschaft zu. Es erscheint nur schwer vorstellbar, dass jemand das Lesen dieses Buches ernsthaft bereuen könnte. Das gilt keineswegs nur für Frauen – Autor und Rezensent bürgen dafür.

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