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Buchdoktor

Posted on 30.8.2024

Die Antiquariatsbuchhandlung der Brüder Heldar breitet sich in mehreren Etagen des Hauses Charing Cross Road 200 in London aus, einige Genres füllen mehrere Räume. Die Geschäfte werden aus heutiger Sicht umständlich und handschriftlich mit Kunden in aller Welt abgewickelt. Außer dem 80jährigen Senior Vater William arbeitet Juniorchef Johnny im Geschäft; auch Enkel Tim schnuppert bereits staubige Luft. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg läuft das Geschäft mit wertvollen Buchausgaben erst allmählich wieder an; nur wenige Sammler klopfen an die Ladentür der Heldars. Mit Focus auf die erfahrene Angestellte Sally Meron erfahren Williams Leser:innen von einem Gespenst, das im 19. Jahrhundert im damaligen Pub im Nachbarhaus aufgetreten sein soll. Die pflichtbewusste Sally wirkt gestresst und erfährt die Zuwendung ihrer Kollegen, die darauf achten, dass sie nicht zu viele Überstunden macht. Bei Heldar und Nachkommen sind neben Schreibkräften, dem Buchhalter, einem Laufburschen und gleich mehreren Packern erstaunlich viele Mitarbeiter angestellt; der Betrieb leistet sich sogar einen leicht behinderten jungen Mann, der ja auch ein Auskommen braucht. Durch die pure Anzahl an Mitarbeitern lauern Konflikte durch die komplizierte Hierarchie (selbst die Packer haben einen Chefpacker), aber auch durch das Geschäftsethos, das darauf beruht, die Bildung und die Kaufkraft eines Kunden blitzschnell einschätzen zu können. Mit einem schrill gekleideten US-Amerikaner als Kunden und einem offenbar staatenlosen Vermittler von seltenen Buchausgaben kündigen sich bereits andere Zeiten an, die von den Heldars die Anpassung ihrer Menschenkenntnis erfordern. Als in den Geschäftsräumen Mister Butcher mit einem Messer im Rücken tot aufgefunden wird, fragen sich Ermittler und Angestellte, wer in dem belebten Gebäude Motiv, Waffe und Gelegenheit zur Tat gehabt haben könnte. Butcher war durch seine abfälligen Kommentare mit Abstand der verhassteste Kollege im Haus, so dass ihm niemand eine Träne nachweint. Als Tat-Motive stehen alte Kränkungen, alte Bündnisse aus gemeinsamem Militärdienst zur Auswahl und (wie so oft) die Spur des Geldes, weil die Branche über wiederholte Diebstähle einzigartiger Bücher zu klagen hat. Dass Kunden im Haus ausschließlich mit einem Lieblingsangestellten verhandeln, mag ja branchenüblich sein, für die Ermittlungen sind die Vertraulichkeiten eher hinderlich. Nachdem Hamilton ihrem Publikum die wichtigsten Angestellten vorgestellt hat, befassen sich die Ermittler in klassischer Art mit Beziehungsdiagramm, Motiv und der Suche nach Beweisen. Wie schon bei den Klassikern der Josephine Tey fällt hier die Liebenswürdigkeit der Figuren auf und die Geduld, mit der sie behinderte und kriegstraumatisierte Kollegen zu integrieren versuchen. Krimi-Klassiker glänzen meist weniger mit originellen Kriminalfällen, sie erzählen Leser:innen der Gegenwart eher über Kultur und Sitten ihrer Epoche. 1956 im Original als Einstiegsband einer vierbändigen Serie erschienen, zeigt sich „Mord in der Charing Cross Road“ als historisches Musterbeispiel des Genres, das die Situation des Antiquariatsbuchhandels kurz vor einem Strukturwandel abbildet. Wer sehr viele handelnde Figuren nicht scheut, sich für Antiquariate und die Geschichte der Kriminalliteratur interessiert, sollte hier zugreifen. --- Serieninfos Band 1 von 4, 2 ist als deutsche Übersetzung für 2025 angekündigt

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