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Buchdoktor

Posted on 16.8.2024

Als der stark sehbehinderte Jacques mit 8 Jahren durch einen Unfall erblindet, hat er für die 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts ungewöhnlich günstige Startchancen: er war vor seiner Erblindung sehend, seine Eltern (beide Naturwissenschaftler) entscheiden sich gegen eine Internatsschule und für eine öffentliche Schule und sie fördern ihren Sohn engagiert. Jacques bekommt bereits im Grundschulalter eine Braille-Schreibmaschine und entwickelt ein ungewöhnlich gutes Gedächtnis. Weitere fördernde Einflüsse sind sein Schulfreund Jean, der praktisch sein Leben der Fürsorge für Jacques und dessen Assistenz widmet, und Jacques Besuche im Dorf seiner Großeltern, in dem er seine Umwelt wie aus dem Schutzpanzer seiner Kindergruppe heraus erkunden kann. Beeindrucken konnten mich die Beschreibung der „Sonar“-Fähigkeit Erblindeter generell in unbekanntem Terrain, mit der sie laut Lusseyran spüren, wie Dinge und Materialien förmlich auf sie zukommen, sowie seine ungewöhnliche Menschenkenntnis, die man ebenfalls als Sonar sehen könnte. Die Schilderung von Kindheit und Jugend klingt sprachlich etwas zu blumig und lässt körperliche Veränderungen und Konflikte der Pubertät ebenso dezent im Dunkeln, wie Lusseyrans Gefühle für Jean, so dass der Autor aus heutiger Sicht älter als 40 Jahre wirkt. Seine Zurückhaltung wird er im Nachwort damit erklären, dass er nicht die Absicht hatte, den Lesern von seiner Person zu erzählen. Als Abiturient und Kind seiner Zeit wird er die Überzeugung äußern, dass seine Klassenkameradin zwangsläufig durchs Abitur fallen musste, da Frauen Männern intellektuell unterlegen seien. In dieser Biografie wird er sich nicht dazu äußern, ob ihm 1943 eine Verbindung bewusst werden wird zwischen der Diskriminierung von Frauen und dem rassistischen Dekret, das Blinde vom Staatsdienst ausschließt - obwohl Frankreich bis dahin nach der Maxime gehandelt hatte: wer als Behinderter einen Beruf ausüben kann, darf ihn ausüben. Sehr spannend fand ich die Schilderung von Lusseyrans Tätigkeit bei der Produktion einer Untergrundzeitung und als verantwortlicher Rekrutierer für die „Volontaires de la Liberté“, eine Aufgabe, für die er sich durch seinen Instinkt für Menschen und seine überragende Gedächtnisleistung qualifiziert. Wer alle Daten auswendig parat hat und keine schriftlichen Aufzeichnungen anlegt, kann andere Mitglieder nicht in Gefahr bringen. Auch im KZ Buchenwald wird „der Blinde“ zu einer geachteten Persönlichkeit. Rückblickend zeichnet der Autor ein klares Bild seiner Person vor und nach seiner Erblindung, seiner Tätigkeit in der französischen Résistance und seiner Religiosität. Anfangs ist (auch in der überarbeiteten Ausgabe) die Sprache gewöhnungsbedürftig – aber wir lesen den Text eines für seine Zeit ungewöhnlich gebildeten Mannes, der vor 100 Jahren geboren wurde. --- Ausgaben Die Neuausgabe mit SW-Cover-Illustration finde ich ansprechender als die ältere hellblaue Ausgabe. Originalausgabe 1953. Englische Erstausgabe 1963, deutsche Erstausgabe 1966 bei Klett-Cotta, dtv-Ausgabe circa 1990.

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