Buchdoktor
Unter dem Druck einer Eigenbedarfs-Kündigung ist während des Lockdowns 2020 die knapp 40jährige Vanessa auf der Suche nach einer Wohnung in Berlin. Ihr Handy liefert ihr Druck und Stütze zugleich; eine Meditations-App bietet ihr Führung, aber ständige Forderungen in den Benachrichtigungen nach Entscheidungen machen deren Wirkung wieder zunichte. Vanessa ist sich bewusst, dass sie therapiebedürftig ist. Der Anruf einer Literaturwissenschaftlerin konfrontiert sie damit, dass ihre Urgroßmutter Johanna hundert Jahre zuvor erfolgreiche Autorin gewesen sein muss, deren Werke offenbar nicht erhalten sind. Bei einer Besichtigung der Lungenheilstätte in Beelitz, die nach 1945 in der damaligen DDR als russisches Militär-Krankenhaus diente, schließt sich ein Kreis in Vanessas Leben. In Beelitz wirkte Anfang des 20. Jahrhundert das Medium Anna, die zur Heilung ihrer Tuberkulose als Patientin auf „dem Zauberberg der Proletarier“ war – und über Beelitz wollte um 1900 Vanessas Urgroßmutter Johanna Schellmann ein Buch schreiben. Johanna stammte aus wohlhabender bürgerlicher Familie und genoss für ihre Zeit ungewöhnliche Freiheiten. Ihr Mann Simon forschte als Mediziner an der Entwicklung eines Antibiotikums (das zur Tuberkulosebehandlung dringend erwartet wurde), fühlte sich jedoch als Bildungsaufsteiger in seinem Beruf ausgegrenzt. Anfang des Jahrhunderts blühte in München unter Schrenck-Notzing das Interesse an Okkultismus, und während des Ersten Weltkriegs waren Frauen nicht ungewöhnlich, die „die Gabe“ hatten, den Tod von Angehörigen vorhersagen zu können. Johanna Schellmann griff mit dem Thema Okkultismus ein aktuelles Thema auf, kam mit ihrem Roman jedoch schwer voran. Wie ihre Urenkelin ein Jahrhundert später war sie auf der Suche nach Führung und geriet offenbar unter den Einfluss der stark religiös geprägten Anna (eine fiktive Romanfigur, die an eine reale „Seherin“ angelehnt ist). 60 Jahre später, während der Anti-Schah-Demonstrationen in Berlin, wird Vanessas Urgroßmutter mit über 80 Jahren durch ihren Alltagshelfer Klaus wieder mit ihrem Manuskript von 1907 konfrontiert. Fazit Ulla Lenze erzählt aus einer Rahmenhandlung der Gegenwart heraus auf weiteren Zeitebenen (1900, 1967) über eine für ihre Epoche ungewöhnlich erfolgreiche Autorin, von Okkultismus, der schnödem Profitstreben diente, und sehr stimmungsvoll vom Komplex der Beelitzer Heilstätten, in denen mit neuen Methoden die Arbeitsfähigkeit Tuberkulosekranker wiederhergestellt werden sollte. In Beelitz treffen die Figuren und drängende Probleme der Epoche aufeinander. In der Beziehung zwischen Anna in der Rolle des Dienstmädchens und dem bürgerlichen Arztehepaar Schellmann bringt die Autorin die damalige Klassengesellschaft auf den Punkt. Setting und Epoche wirken sorgfältig recherchiert, insgesamt haben mir jedoch ein roter Faden gefehlt, ein zentrales Thema und eine vertiefte Hauptfigur. Gerade weil Anfang des 20. Jahrhunderts Frauen mit „der Gabe“ noch häufig anzutreffen waren, hatte ich mir vom Einblick in Annas Persönlichkeit mehr versprochen als ihre Religiosität.