anni_anushka
Roman mit mehreren Bedeutungsebenen und viel Interpretationsspielraum Sam und Elena leben auf San Juan Island im Bundesstaat Washington, an der Grenze zu Kanada. Wo vor allem Besserverdienende ihren Urlaub machen, bieten sich für die Schwestern abseits des Tourismus wenig Verdienstmöglichkeiten oder Zukunftsperspektiven. So arbeitet Sam auf einer Fähre und Elena im örtlichen Golfclub. Beide hängen auf der Insel fest, da sie seit über 10 Jahren die schwer kranke Mutter pflegen. Als Sam eines Abends beobachtet, wie ein Bär zu ihrer Insel schwimmt, ändert sich für die beiden Schwestern alles. Die eine Schwester entwickelt Furcht, die andere eine Obsession. Ich bin mit großen Erwartungen an diesen Roman herangegangen. Ich mag natur- und tierbezogene Romane und war gespannt auf die Geschichte um diesen Bären. Das Buch ist jedoch so ganz anders. Es geht nicht wirklich um den Bären und seine Lebensweise, obwohl er in der Geschichte eine zentrale Rolle übernimmt. Der Bär ist aber vor allem Projektionsfläche für die innerfamiliären Konflikte. Für Elena stellt er einen Glücksbringer in ihren tristen Leben dar und verkörpert alles Gute, was den Schwestern von jetzt an passieren wird. Im Umgang mit dem Bären zeigt sich symbolisch der Umgang der Menschen mit der Wildness: entweder ein Versuch, aus einem wilden Tier ein Haustier zu machen oder eine übertriebene Angst und Verteufelung als Bestie und damit ein Zerstörungswunsch. Zwischen den Szenen der Familiengeschichte schimmert zudem einiges an Gesellschaftskritik durch an einer Gesellschaft, in der die Krankheit eines Familienmitglieds den finanziellen Ruin der gesamten Familie bedeutet. Sam und Elena müssen schon früh die finanzielle Versorgung übernehmen, sodass ihnen wenig Möglichkeiten bleiben, eine Ausbildung oder sogar ein Studium aufzunehmen. Stattdessen türmt sich der Schuldenberg immer höher, nicht zuletzt, weil durch die Coronapandemie der Tourismus zum erliegen kam. Nachdem die Geschichte lange Zeit vor sich hin dümpelt und die Natur- und Tierbeschreibungen eher oberfächlich bleiben (und mich dadurch auch nicht fesseln konnten), überschlagen sich am Ende die Ereignisse und man hat das Gefühl, an der ein oder anderen Stelle wesentliche Hinweise verpasst zu haben. Mein zwiegespaltenes Verhältnis zu diesem Buch stammt aber auch von den Figurbeschreibungen und -entwicklungen. Sam wird immer egoistischer und kindischer, dabei soll sie Ende zwanzig sein. Gleichzeitig ist sie sehr bedürftig und abhängig von ihrer Schwester. Elena hingegen hütet ihre eigenen Geheimnisse, die die Beziehung der Schwestern belasten. Letztlich war mir keine der Figuren wirklich sympathisch oder boten Identifikationsmöglichkeiten. "Cascadia" ist deutlich angelehnt an das Märchen "Schneeweißchen und Rosenrot", ist aber keine direkte Neuerzählung. Ich denke, dieses Buch ist sehr gut geeignet für Lesekreise, es bietet viele Szenen zum diskutieren und interpretieren, was hier nicht möglich ist, ohne zu spoilern.