Profilbild von Buchdoktor

Buchdoktor

Posted on 23.7.2024

In der nahe Zukunft ist der Wasserspiegel so weit angestiegen, dass Berlins Stadtkern nur aus einer von einer Schutzmauer umgebenen Kerninsel besteht. „Die Ewigen“, zwei Frauen (Else, Icherzählerin Lola) und drei Männer (Friedrich, Wilhelm, Alexander) haben überlebt und dürfen als Mentoren für Besucher tätig werden. Im Sommer reisen Übersetzer an und erklettern die Außenmauern über Leitern. Vermutlich spielen sie regelmäßig per In-Ears den Gehorsam der Fünf neu auf. Fällt eine der ewigen Fünf aus, wird sie durch eine Inkarnation in der Figur eines Kindes ersetzt. Lolas eigener Anleiter war Wilhelm, der seitdem ihr Idol ist. Das restliche Team muss demnach den Anblick des heranwachsenden Nachfolgers ertragen und zugleich realisieren, dass das eigene Leben begrenzt ist. Versorgt werden die Überlebenden durch abgeworfene Päckchen, es muss also weiteres Leben auf dem Planeten geben. Weil die Insel Gefahren birgt durch herumliegenden Schutt, sind die Regeln streng; verletzte oder tote Kollegen kann sich der Trupp nicht leisten. Außer den erhaltenen Büchern der Staatsbibliothek aus der Zeit der Betonmauer gibt es offiziell kein Papier mehr. Das erhaltene Wissen dreht sich ausschließlich um existierende Gegenstände. Über das theoretische Wissen zu Materialien könnte man sich allerdings wundern - woher wissen die Fünf, was Glas ist und was Metall? Aus der Ordnung von Heranwachsen und Sterben hat Friedrich vor auszuscheren. Er lehnt das Leben nach alten Schriften ab, die seiner Ansicht nach der Gegenwart angepasst werden müssten. Falls Friedrich fliehen würde, fehlte sein Vorbild für die neue Inkarnation – und das System wäre am Ende. Als die Truppe eine ferne Stadt betreten will, indem sie die blauen Ziegel des Tors von Babylon durchschreitet, wirkte das auf mich wie ein Schritt zurück in meine Gegenwart, in der Goldelse, Büste der Nofretete und der Mann mit Goldhelm Realität sind. Anne Reinecke weitet mit der Erzählstimme Lolas in ihrem gar nicht so utopischen Text meinen Blick von einem sehr vagen Rest-Berlin (hinter Mauern), das mit Fortschreiten der Handlung zu meinem konkreten, existierenden Berlin wird. Im Zeitalter von Pen&Paper-Rollenspielen finde ich selbst das Durchschreiten eines Portals nicht abwegig. Mit zahlreichen Anspielungen auf Mauern, Fluchtbewegungen, die Luftbrücke bot sich weiter Interpretationsspielraum, obwohl ich noch immer über den Zweck der Szenarien rätselte. Nicht nur mit seinem DaVinci-haften Flugobjekt auf dem Buchcover ein Highlight meiner bisher gelesenen Berlin-Romane.

zurück nach oben