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Buchdoktor

Posted on 21.7.2024

Die Psychotherapeutin Dr. Lim Hae-Sun verlässt das Haus zurzeit nur nachts, um auf der Straße nicht erkannt zu werden. Ihr Tagesablauf besteht nach dem Verlust ihres Arbeitsplatzes in einem Therapiezentrum aus Hausarbeit und dem akribischen Feilen an Briefen, mit denen sie ihre Krise zu bewältigen versucht und die seit einem Jahr nicht abgeschickt wurden. Hae-Sun hatte in einer gescripteten Fernsehsendung, in der sie als Expertin auftrat, eine abfällige Bemerkung gemacht, die zu ihrer Kündigung führte und sie selbst zu Opfer öffentlicher Häme machte. In ihren Alpträumen sah sie sich bereits als Opfer von Doxing, nachdem ihre Anschrift veröffentlicht worden war. Das Zusammentreffen mit der schwer verletzten Straßenkatze „Rübe“und der 10-jährigen Se-I, die sich neben anderen Aktivisten um die herrenlosen Tiere kümmert, verändert Hae Suns Blick auf den Eklat nach der Fernsehsendung, aber auch auf die Menschen, denen sie schreibt: ihren Ex-Partner, Ex-Chef, die Kollegin, die ihr Unterstützung versagte, einen Anwalt und weitere Personen. Wie viel Hae-Sun darin über ihr Verhältnis zu den Briefempfängern preisgibt, hat mich hier fasziniert. Kim Hye-jin hält praktisch verschiedene Folien bereit, die den Blick ihrer Figur und ihrer Leser:innen verändern, so dass man die eigene Einschätzung der Figuren anpassen muss. Warum z. B. zeigt sich Hae-Sun dem Mädchen gegenüber einfühlsam und scheint doch nicht zu bemerken, dass es offenbar von niemandem vermisst wird? Warum bricht Hae-Sun alle Kontakte ab, auch zu Personen, die ihr positiv gegenüberstehen? Warum wird nicht darüber gesprochen, wer „Rübe“ nach der schweren Operation bei sich aufnehmen wird? Ein Text, der auf den ersten Blick sprachlich schlicht wirkt, jedoch erstaunliche Tiefe bietet.

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