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Buchdoktor

Posted on 21.7.2024

Elif Shafak verknüpft die Schicksale des ungewöhnlich begabten Jungen Arthur aus einem Londoner Armenviertel (ab 1840), der 9jährigen Narin, die in der Gegenwart (2014) endlich zur Taufe in jesidischer Tradition in den Irak reisen soll und der Hydrologin Zaleekhah (2018), die in London ein Hausboot auf der Themse mietet und sich mit Herkunft und Traditionen ihrer Familie auseinandersetzen muss. Die Rahmenhandlung in der Gegenwart wirft die Frage auf, wie der Grabstein für „Arthur, König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere“ ins Lalischtal des heutigen Irak gelangt sein könnte. Die vielfältigen Verknüpfungen der Figuren reichen von Tafeln in Keilschrift aus der Bibliothek Assurbarnipals, über ein Buch zu Ninive, das Arthurs Forscherdrang anstachelt, das „Mudlarken“ im Schlick der Themse, Wasser als Grundlage des Ackerbaus, als Überträger von Krankheiten, als Kriegsanlass oder als Reiseweg bis zu einem Dammbauprojekt der Gegenwart, das den Vorwand für Völkermord liefert. Die Figuren könnten zudem durch den Wasserkreislauf verbunden sein, da alle drei Personen in entscheidenden Lebenssituationen einen Wassertropfen, eine Träne oder eine Schneeflocke wahrnehmen. Begleitet wird Shafaks komplexer Plot mit Fragen u. a. nach der weiblichen Rolle in Dichtung und Erzählkunst, der Sehergabe, Ertaubung, der Diskriminierung und Vernichtung von Minderheiten, Menschenhandel, Sklaverei und der Aneignung historischer Artefakte durch europäische Archäologen. Penibel recherchiert und weit ausholend erzählt, hat mich der Roman besonders in der ersten Hälfte gefesselt, in der Arthur als absoluter Amateur, aber mit ungewöhnlicher Gedächtnisleistung die Übersetzung eines Keilschrifttextes beginnt. In unmittelbarer Umgebung seiner Tätigkeit im British Museum befindet sich in der Gegenwart das Tattoo-Studio von Nen, deren Hausboot Zaleekhah mietet und die widerum Lebensweisheiten in Keilschrift tätowiert. Die Pumpe, deren Schwengel 1854 in London Dr. John Snow abmontieren ließ, damit eine Cholera-Epidemie beendete, und ihre Bedeutung für Arthur zeigt u. a. Shafaks Liebe zum Detail und ihre umfassende Recherche. Weit ausholend und erstklassig recherchiert, hat mich Elif Shafaks Roman „einer eingewanderten Autorin, die nicht in ihrer Muttersprache schreibt“, wie sie im Nachwort anfügt, keinen Moment gelangweilt und mir tiefen Einblick in die Figuren ermöglicht. Durch Kapitelüberschriften war jederzeit deutlich, an welchem Ort und in welcher Epoche ich mich gerade befinde. Drei zentrale Figuren, zwei große Flüsse in zwei Regionen – ein großartiger Roman.

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