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tausendlexi

Posted on 17.7.2024

Ja ich weiß, Alter und Sterben sind Themen, welche die meisten Menschen wohl abschrecken. Jedoch wird dieser Umstand uns irgendwann erreichen. Wir sind ihm ausgeliefert. Didier Eribon erzählt in seinem Buch über seine Mutter. Eine Frau der Arbeiterklasse, eine Frau die ihr Leben lang unglücklich war. In einem Waisenhaus aufgewachsen, heiratete sie einen cholerischen Mann, die Ehe blieb distanziert und feindselig und gebar vier Söhne. Eribon hatte kein gutes Verhältnis zu seiner Mutter, zu weit klafften die Ansichten über das Leben, den Alltag und die Politik auseinander. Er, der dieser Arbeiterklasse entflohen war und zu einem vielversprechenden Soziologen versierte. Es kommt die Zeit als die Mutter sich nicht mehr selbst versorgen kann und ihre Söhne ein Pflegeheim für sie aussuchen. Und da war ich nicht erstaunt, dass sich die Gegebenheiten in Frankreich mit denen in Deutschland nicht unterscheiden. Ein marodes Gesundheitssystem scheint die Normalität zu sein. Doch Eribon trägt nicht nur die Missstände zusammen, nein, und hier ging es mir sehr nahe, das Buch forderte mich, beschreibt er detailliert die Emotionen und den Ist-Zustand der Heimbewohnerschaft. Die Gespräche mit meiner Mutter machten mir deutlich, dass Alter und körperliche Gebrechlichkeit einen Kontext darstellen – eine Fessel, ein >Gefängnis< -, der die Möglichkeit, seinem Schicksal, und sei es mit letzter Kraft, zu entfliehen, zunichtemacht: Man will vielleicht, aber man kann nicht mehr. Und weil man nicht mehr kann, will man irgendwann auch nicht mehr. Seite 22 Je älter ein Mensch ist, desto kleiner wird sein Territorium, bis es auf ein Minimum zusammengeschrumpft ist. Was bleibt vom >Ich<, was wird aus dem >Ich<, wenn das >Territorium<, über das man früher verfügte, fast verschwunden ist und man keine Kontrolle mehr über den kleinen oder verschwindenden Rest hat? Seite 79 Diese zwei Zitate gehen beim Lesen durch Mark und Bein. Doch derer gibt es viele in diesem Buch. Der Soziologe und Philosoph Didier Eribon klagt das System der Altersversorgung an. Mehr davon. Er verweist mit berührenden Zitaten von Simone de Beauvoir, Bertold Brecht, Edouard Louis, James Baldwin und einigen anderen, die sich literarisch mit dem Altern und Sterben auseinandergesetzt haben. Mit einem besonderen Zitat von Michel Foucault möchte ich hier den kleinen Einblick in das Buch schließen. In der innigen Hoffnung, dass dieses Buch eine große Leserschaft findet. Ein trotz der Schwere der Thematik, ein gerne gelesen Buch! Der Tod wird zu einem Nicht-Ereignis. Meistens sterben die Leute, wenn es nicht durch Unfall geschieht, benebelt von Medikamenten, so dass sie in einigen Stunden, in einigen Tagen, in einigen Wochen völlig ihr Bewusstsein verlieren: Sie erlöschen. Wir leben in einer Welt, in der die medizinische und pharmazeutische Begleitung des Todes ihm viel von seinem Leiden und seiner Dramatik nimmt. Ich bin mit all dem, was im Rückverweis auf so etwas wie ein großes integratives und dramatisches Ritual über das >Aseptischwerden< des Todes gesagt wird, nicht so ganz einverstanden. Seite 128

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