Veit N
Lesenswertes Panorama! Gesellschaftskritisch, sprachlich fesselnd und unterhaltsam! Daniel Kehlmann transferiert eine mittelalterliche Legende in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges. „Tyll Ulenspiegel“ begleitet dabei die historischen Figuren durch die Wirren dieser Zeit und ihre eigenen persönlichen Tragödien. Chronologisch geradlinig ist dies dabei nur teilweise, aber man findet sich immer gut zurecht in dem Zeitstrahl, man wird wieder eingeordnet und bekommt Einzelheiten in späteren Kapiteln nachgeliefert. Tyll, der sich, aus armen Verhältnissen als Narr an die Höfe des Adels gegaukelt hat ist hintergründiger Protagonist (so komisch das klingt…). Er tritt immer als Instanz des Konträren, des Chaos und der Frechheit auf, hält sowohl dem bäuerlichen Volk als auch den „Hochwohlgeborenen“ seinen (namentlich verliehenen) Spiegel vor und liefert damit einen kritischen Blick auf diese düstere Zeit europäischer Geschichte. Wer Daniel Kehlmann’s Bücher kennt, weiß, sein Material 1) ist nicht ‚straightforward‘, wandelt ein bisschen diesseits, ein bisschen jenseits der Grenze zum Unmöglichen, Unfassbaren („Beerholms Vorstellung“, „Mahlers Zeit“) und 2) widmet sich den inneren Grenzen der Persönlichkeiten (natürlich „Die Vermessung der Welt“, „Ruhm“, „F“, „Der fernste Ort“). Wie passt „Tyll“ hier rein? Zu beiden Punkten „gut“! 1) Immer wieder wird der Realismus des Lesers auf eine Probe gestellt. Was passiert wirklich und was ist, entsprechend eingebettet in die Vorstellung der Zeit in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, Magie, Hexerei, Alchemie? 2) Die historischen Figuren, denen Tyll im Verlauf begegnet sind z.B. Athanasius Kircher, ein aus der Geistlichkeit hervorgegangener Naturforscher, voller Überzeugung seiner Genialität. Bei der ersten Begegnung mit ihm (als junger Helfer der Inquisition) ist er noch ehrfürchtig, teilweise ängstlich. Später gewinnen die verqueren Ansichten der von klerikalen Prinzipien durchsetzten Wissenschaft die Oberhand. Toll, wie hier die widerwärtige Unlogik der Inquisition herausgearbeitet wird. Kehlmann hat subtil auch immer die nötige Prise Humor verarbeitet (Zumindest ergibt dieser Humor sich aus unserer heutigen Perspektive)! Elizabeth Stuart, für einen Winter Königin von Böhmen, gebildet, klug, mehr oder weniger glücklich mit einem ihr unterlegenen Friedrich V. verheiratet (Der Winterkönig; auch ihn lernt man näher kennen) ist fasziniert von ihrem Narren und bis zuletzt ist er ihr eine Nasenlänge voraus. Sie ist die Hochadlige, die mit Cleverness versucht ihren Stand zu schützen, gleichzeitig aber vermisst sie England (als Enkelin von Maria Stuart und Tochter des englischen Königs Jakob I), die dortigen Theater und die Poesie. Sie versucht sich, Tyll’s Tricks zu durchschauen, vermutlich ist sie sich im Klaren, dass sie von ihm viel lernen kann. Es gefällt mir, wie die historischen Fakten und einzelne Personen aufleuchten (es macht Spaß sich während der Lektüre zu einzelnen Namen auf Wikipedia zu informieren). Weitere Rollen werden eingenommen von Tyll’s Leidensgenossin Nele, vom Schwedenkönig Gustav, Englands König Jakob I, dem Gelehrten Olearius oder dem Lyriker Paul Fleming. Tyll selbst scheint ein Wunderkind zu sein, das doch auch immer etwas geheimnisvoll bleibt (vielleicht entsprechend der echten Vorlage?!). Irgendwie finde ich, dass man ihn noch etwas schärfer hätte herausarbeiten und in den Vordergrund stellen hätte können. Aber dann ginge wohl auch seine Rolle als „Kitt“ zwischen den „wichtigen“, tragenden Figuren der Zeit verloren, die er verbindet, ohne selbst eine vordergründige Rolle zu spielen. Er ist der Spiegel, nicht das Gespiegelte. So ist „Tyll“ ein bisschen wie ein Panorama, ohne notwendigerweise einen fixen Anfang und ein Ende zu haben (auch wenn diese durchaus vorhanden sind). Aber die Stärke des Buchs sind die für mich die Schlaglichter auf die Gesellschaft des 17. Jahrhunderts und die Situationskomik nebst Dialogen (Grandios: Der Esel!). Sei es Tyll’s Vater Claus als armer Müller, aber spitzfindiger, wissbegieriger Hobby-Wissenschaftler; sei es die menschenverachtende Brutalität eines Inquisitionsprozesses; das „magische“ Bild, das die Dummen und die niederen Standes entlarven soll (Remineszenz an H.-C. Andersens „Des Kaisers neue Kleider“?!); eine Szene der Mineure, eingeschlossen unter dem Schlachtfeld dieses Krieges unter den damaligen, unvorstellbaren Bedingungen oder auch das Zusammentreffen der Gelehrten jener Zeit, die mit kruden Argumenten Drachen und ihre Heilkraft erforschen (historisch belegt: Athanasius Kircher). Kehlmann fragt mich mit "Tyll" nach dem Menschlichen in uns und fordert ein wenig Zivilcourage heraus. Erst mal komisch, warum dies im 17. Jahrhundert passieren muss. Aber irgendwie auch schlüssig, weil der Roman uns klarmacht (Mut macht?), wie viel wir, aus humanitärer Sicht, in den letzten 400 Jahren schon geschafft haben (und wie viel vielleicht damit auch auf dem Spiel steht?!). So erschließt sich auch, warum Tyll (eigentlich aus dem 14. Jahrhundert!!!) 300 Jahre "hinausgezögert" wurde. Er ist für diese Aufgabe ein idealer Protagonist. Das macht „Tyll“ lesenswert und auch dank der Kehlmann’schen Sprache und Sprachwitzes zu einem guten Roman. Aufgrund der mir nicht ganz klar gewordenen Dramaturgie kommt „Tyll“ aber nicht ganz an „die Vermessung der Welt“ (sicherlich das Buch, das man am ehesten zu Vergleichszwecken heranziehen würde) oder „Mahlers Zeit“ (s. meine Rezension) heran. Ich habe deutsche Geschichte bisher nie mit dem allergrößten Interesse verfolgt und bin auch nicht der größte Historienroman-Leser. Durch das Schmökern auf Wikipedia zu den realen Vorlagen der Charaktere, wurde mein Interesse zumindest etwas mehr entflammt (vielleicht ja auch eine Intention des Autors?! ;) ).