wandanoir
Kurzmeinung: Große Literatur. Ich liebe diesen Roman! Von der schwierigen Verarbeitung von Verlusten Der Autor, Leo Vardiashvili, selbst geboren in Georgien und seit seinem 12. Lebensjahr nach England immigriert, schreibt in seinem Debütroman „Vor einem großen Walde“, über seine alte Heimat und beweist damit großes erzählerisches Geschick. Die Erzählung ist einerseits eine Hommage an Vardiashvilis gebeuteltes Heimatland, von dem er schreibt: „Georgien trennte sich von der Sowjetunion und wurde 1991 zur Republik. Hastig gebildete Parteien stritten sich um den Thron dieser frisch geprägten „Republik“. Es dauerte nicht lange, bis man zu den Waffen griff.“ Bürgerkrieg ist immer hässlich und zieht sogenannte „Kollateralschäden“ nach sich. Wenn man auf die Straße geht, um Nahrung zu besorgen, kann es sein, dass man nicht mehr nach Hause kommt. Ein Menschenleben zählt nichts mehr. Und andererseits ist „Vor einem großen Walde“ eine Erzählung von endlich zugelassenen Emotionen und ihrer Aufarbeitung. Denn, es gelingt einer kleinen Familie Tbillisi und das Land zu verlassen. Vater Irakli und die beiden Söhne Sandro und Saba Sulize-Donauiri bauen sich in England ein neues Leben auf, freilich ein Leben ohne Mutter, die sie zurücklassen mussten. Schuldgefühle plagen Vater Irakli, die Schatten der Vergangenheit und eine große unterdrückte Traurigkeit lassen die Familie nicht los. „Unsere Familie war in den Jahren unserer Abwesenheit ausgestorben. Großmütter, Großväter, Onkel, Tanten und Cousins waren verloschen wie billige Lichterketten.“ Als die Kinder groß sind, zieht es den Vater zurück. Dort gilt er bald als verschollen. Georgien ist immer noch ein Land größter politischer Willkür und Wirren. Auch der ältere Bruder Sandro, der dem Vater folgt, verschwindet. Als auch Saba, unser Icherzähler nach Georgien aufbricht, beginnt das innere Gemenge von bisher unterdrückten Gefühlen und Empfindungen, von Trauer und Schuldgefühlen, von Verlorenheit und nicht gefestigter Identität, in Saba zu wallen. Davon handelt der Roman in erster Linie. Es kommt nicht so sehr auf die Geschichte selber an, auf das Suchen und Finden, sondern auf die Emotionen. Der Kommentar und das Leseerlebnis: Es ist großes Kino wie der Autor eine eigentlich banale Geschichte zur Vergangenheitsbewältigung benutzt und daraus große Literatur macht! Saba kämpft mit den Stimmen seiner Toten im Kopf. Da ist einmal die Stimme seiner Mutter, die er lange nicht zu ertragen vermochte, weil es einfach zu schmerzlich gewesen wäre, aber in Tbilissi hört er sie wieder. Er redet mit der Stimme seines Lieblingsonkels Ansor, der ihn immer ermutigt hat, sich selbst zu vertrauen, mit der Stimme des Säufers Surik, der noch in den Überresten des alten Elternhaus wohnt und sein erster Kumpel gewesen ist. Und auch Nino, die seine engste Spielgefährtin war und durch eine verirrte Gewehrkugel früh verstarb, erhebt ihre freche Stimme wie eh und je. Sie kennt seinen inneren Schweinehund am besten und fordert ihn zu provokanten Verhaltensweisen heraus, wenn sie ihn als „Muttersöhnchen“ verhöhnt. Die inneren Stimmen Sabas sind ein besonderer Charme dieser Erzählung. Für Saba sind sie nicht tot, sondern quietschlebendig. Das kommt uns bekannt vor. Nehmen wir doch alle unsere Toten innerlich mit. Doch wenn Saba sich nicht eines Tages von ihrem Rufen und ihrem Einfluss auf ihn verabschieden kann, wird er nicht lebensfähig werden und nicht offen sein für die Zukunft. Weiterer Charme entwickelt sich durch Sabas Tbillisischen Gastgeber Nodar und seine Frau Katinor. Das muss man lesen, das will ich nicht vorwegnehmen! Nodar ist eine Marke. Nodar ist toll. Nodar muss man lieben. Nodars Flüche sind legendär! Es ist jedoch niemand in Tbillisi, der keine Verluste erlitten hätte, nicht einmal der fiese Kommissar Kom Kelkabiani. Der Autor erzählt einfühlsam von den großen Katastrophen durch Politik und Geschichte und ihren Spuren. Einfühlsam und mit feinem Humor, liebevoll. Der Autor erzählt gleichwohl eine Geschichte von verbrannten Dörfern, vom sinnlosen Töten, von Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, von Widerstand und Ergebung, er erzählt die Legende vom Baba-Jaga-Wald, von Verrat und Freundschaft, von Vergebung und Liebe. Das Ganze ist eingebunden in den landschaftlichen Charmes eines Landes, das von hohen Bergen umgeben ist und einfach wunderschön sein muss. Er erzählt davon, wie es ist, seine alte Wohnung zerbombt vorzufinden oder verwahrlost, er erzählt vom Wiedererkennen und erneuten Verlieren. Die Sprache ist ganz eigen. Sehnsüchtig und melancholisch, eigenartig traurig und doch wunderschön mit sanften Bildern, sie hat einen Rhythmus, der mich verzaubert. Apropos Zauber, sicher, die Story hat etwas Märchenhaftes an sich, das geheimnisvolle Kaleidoskopi-Manuskript zum Beispiel oder die Drifts in Sabas Kopf, die großen Märchen-Wälder, die Begegnungen mit unerwartet guten Menschen, andererseits, wie könnte sie sonst erzählt werden? Wie könnte man sonst darstellen, wie es in Saba aussieht, konfrontiert mit den Herrlichkeiten und den Scheußlichkeiten seiner Heimat, die nicht seine Heimat bleiben kann. „Vor einem großen Walde“ ist eine wunderbare Vergangenheitsbewältigungsgeschichte, denn „Bevor es besser werden kann, muss es erst schlimmer werden“. Fazit: Ich bin verzaubert und habe deutlichere politische Bezüge in keinem Augenblick vermisst, da der Autor sich auf die Gesamtzusammenhänge bezieht. Dass das moderne große Thema von Vertreibung, Migration und Heimatverlust in eine Art Märchen verpackt ist, darf nicht davon ablenken, wovon tatsächlich erzählt wird! In meinen Augen zählt der Autor zu den ganz Großen! „Vor einem großen Walde“ ist Literatur vom Feinsten. Kategorie: Anspruchsvolle Literatur Verlag, Claassen/Ullstein 2024