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seeker7

Posted on 6.6.2024

Wenn man ein wenig mit den Meinungen des – inzwischen etwas umstrittenen – Star-Philosophen und Bestsellerautors vertraut ist, wundert man sich über den Titel seiner aktuellen Publikation: Hatte er sich nicht mehrfach kritisch bis abfällig über die “werteorientierte” Außenpolitik der Ampel geäußert – inklusive einer massiven Abwertung von Ministerin Baerbock? Nach der Lektüre löst sich der Widerspruch teilweise auf – jedoch nicht ohne Irritationen bzw. Ratlosigkeit zu hinterlassen: Es geht ihm um eine andere Form der Wertorientierung! Die Unterschiede zu erklären, ist die eigentliche Mission dieses Buches. PRECHT stellt zu Beginn seines Essays (so seine Begriffswahl) klar, dass er in der aufziehenden Klimakatastrophe die bedrohlichste Herausforderung der Menschheit sieht. An verschiedenen Punkten seiner Argumentation weist er auf die damit verbundenen Prioritätensetzungen hin. Eine weitere zentrale Rahmenbedingung wird nach Ansicht des Autors durch die geopolitische Machtverschiebung in Richtung einer multipolaren Welt gesetzt, in der insbesondere China und Indien relevante Player wurden und bleiben werden. PRECHTs – gut nachvollziehbare – Grundgedanken sind folgende: Um die dringend notwendige globale Kooperation in den Überlebensfragen durch eine sinnvolle Diplomatie zu fördern, sei es absolut zwingend, das Ende der Vormachtstellung Amerikas anzuerkennen, auf Einmischungen in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten zu verzichten und die individuellen Interessen bzw. Entscheidungen derjenigen Staaten anzuerkennen, die sich keiner Einflusssphäre einer Großmacht zu- und unterordnen wollen. Der Autor plädiert einerseits nicht für eine wertneutrale Interessenspolitik, macht aber auf die Notwendigkeit aufmerksam, eigene wirtschaftliche Interessen zu berücksichtigen. Es wird aber nicht ganz deutlich, wo genau die Grenze zwischen Distanzierung von Staaten mit Menschenrechtsverletzungen und einer pragmatischen und toleranten Zusammenarbeit verlaufen soll. Für den Autor ist Doppelmoral ein großes Thema: Er wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass amerikanische Interventionen ebenfalls völkerrechtswidrig waren, ohne dass dies zu ähnlichen Protesten und Konsequenzen geführt hat wie der Angriff Russlands auf die Ukraine. Der Autor scheint geradezu fixiert auf den Gedanken, dass eine Unterscheidung von “westlichen” Werten und universalen Menschenrechten nicht nur möglich sei, sondern die Grundlage einer neuen Wertorientierung in der Außenpolitik darstellen könnte. Er erweckt wiederholt den Eindruck, als ob das Vertreten der “westlichen” Werte grundsätzlich und andauernd in arrogant-aggressiver Form und unter Inkaufnahme von Konflikt-Eskalationen stattfinden würde. Es wirkt doch ein wenig anmaßend, dass der Autor der aktuellen Außenpolitik pauschal (und ohne konkrete Belege) unterstellt, sie würde nicht zwischen den Interessen Amerikas auf der einen und Europas bzw. Deutschlands auf der anderen Seite unterscheiden, wäre nicht bereit, die Sichtweisen und Interessenslagen z.B. des globalen Südens zu berücksichtigen, würde die Grundfragen von Umwelt- und Klimaschutz und globaler Gerechtigkeit vernachlässigen und hätte sich von dem Bemühen verabschiedet, diplomatisch präventiv und deeskalativ zu wirken. PRECHT räumt zwar ein, dass sein Entwurf einer neuen Außenpolitik weder den Ukraine- noch den Nahostkonflikt lösen könnte, erweckt aber permanent den Eindruck, als ob schwerpunktmäßig der Westen verantwortlich dafür sei, dass wir nicht in einer besseren und friedlicheren Welt leben. In dieser PRECHT-Weltsicht kommen weder Islamismus und der darauf fußende Terrorismus, noch die seit Jahrzehnten offen dargelegten imperialistischen Perspektiven einer Wiederherstellung eines russischen Großreiches vor. Scheinbar grenzenloses Verständnis hat PRECHT dafür, dass unabhängige Staaten sich im Sinne eines “Rosinenpickens” die Vorteile verschiedener Systeme zusammensuchen – ohne auch nur eine Spur von Werteorientierung aufzubringen. Überhaupt: Der Westen scheint die einzige Instanz zu sein, dessen Handlungen nach moralischen Maßstäben beurteilt werden kann und muss. So wird es z.B. China offenbar hoch angerechnet, dass es eine Politik der Nichteinmischung vollzieht – ohne einmal zu erwägen, dass es auch mit seinem Gesellschaftsmodell wenig zu bieten hätte. Ob die Anrainer Chinas tatsächlich bestätigen würden, dass von ihrem großen Nachbarn keine Bedrohung ausgeht, darf ebenfalls bezweifelt werden. Auch wenn dem Autor es auch in dieser Publikation gelingt, flüssig und gut verständlich zu schreiben und einige bemerkenswerte kreativ-polemische Formulierungen zu generieren, kann er von der inhaltlichen Stringenz nicht wirklich überzeugen. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass hier kein fruchtbarer Diskurs über außenpolitische Perspektiven eröffnet wird, sondern PRECHT aus der Position eines – zur Selbstgewissheit und Arroganz neigenden – Besserwissers die letztgültige Wahrheit verkündet. Dass der Autor dabei die herausragende Bedeutung der Bewältigung der Klimafrage betont, friedliche und präventive Konfliktlösungen anstrebt und sich an humanistischen Grundwerten bzw. Gerechtigkeitszielen orientiert, ist gewiss erfreulich. Befremdlich ist allerdings der immer wieder erweckte Eindruck, die aktuelle Außenpolitik und ihre Akteure benötigten dringend diesen Appell, um sich nicht blind, ahnungslos und wutschnaubend im internationalen Labyrinth herumzuirren. Die geforderte stärkere Toleranz und eine verbale Mäßigung gegenüber anderen Gesellschaftsmodellen sind sicherlich kein schlechten Empfehlungen. Ein wenig Differenzierung, Relativierung und sprachliche Abrüstung täte aber auch dem Autor selbst gut!

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