letterrausch
Disclaimer: Ich war eine der Personen, die Martin Sonneborn ins Europaparlement gewählt haben. Schon seinen ersten Erlebnisbericht „Martin Sonneborn geht nach Brüssel“ habe ich daher 2019 mit Genuss gelesen. Wobei diese Wortwahl natürlich etwas missverständlich ist. Gute Laune kommt bei Sonneborns Schilderungen eher selten auf. Ja, DIE PARTEI ist eine Satirepartei und natürlich geht es da ums Lachen und um Humor. Aber Satire tut eben auch manchmal weh (meistens sogar), vor allem, wenn sie so den Finger in die Wunde legt, wie Sonneborn es hier tut. Während das Buch zur ersten Legislaturperiode zumindest noch in Teilen vom Staunen des normalen Menschen im Angesicht des Europaparlaments-Wahnsinns lebte und man Sonneborn dabei über die Schulter sehen konnte, wie er sprachlos so viel machtvollem Politik-Irrwitz beiwohnt, hat sich der Ton nun in „Martin Sonneborn bleibt in Brüssel“ gewandelt. Die „Unschuld“ des ersten Buchs haben Autor und Leser hinter sich gelassen. Als alter Hase kennt sich Sonneborn in Straßburg und Brüssel nun schon ziemlich gut aus. Das gibt ihm die Gelegenheit, tiefer in die Machenschaften, Hintergründe und korrupten Seilschaften einzusteigen, aus denen sich der Politikbetrieb offenbar speist. Der Informationsgehalt dieses Buches ist immens. Will man alles, was Sonneborn hier aufdeckt und postuliert, nachrecherchieren, so ist man auf Monate hinaus beschäftigt. Ja, Sonneborn ist Satiriker und es geht auch durchaus lustig zu – gerade wenn er Aktionen der PARTEI beschreibt. Da kann man schmunzeln, auch wenn manches ziemlich juvenil daherkommt. In großen Teilen jedoch ist „Martin Sonneborn bleibt in Brüssel“ eine bitterböse Abrechnung mit der Kaste der Berufspolitiker, die laut Sonneborn in jedem Fall korrupt, bestechlich und unmoralisch ist. Besonders hat er es auf Ursula von der Leyen abgesehen. Man erinnere sich – das ist die Frau, die niemand von uns gewählt hat, weil sie gar nicht zur Wahl stand. An von der Leyen arbeitet er sich immer wieder ab, man muss der Frau aber zugestehen, dass sie auch wirklich ein gutes Ziel abgibt. Darüber hinaus deckt er Kapitel für Kapitel Machenschaften und Hinterzimmergeschäfte auf. Von manchen hat man vielleicht in den Nachrichten gehört – die Sau, die für eine Woche durchs Dorf getrieben wird, um dann von etwas anderem verdrängt zu werden. Vieles aber bleibt dem armen Bürger allerdings stets verborgen, denn – auch das bemängelt Sonneborn – es gibt in der Presse keine vierte Gewalt mehr. Der Journalismus hat sich angebiedert, ist brav geworden, denn er profitiert selbst. Da wird er doch die Hand nicht beißen, die ihn füttert. Und so klüngeln die Mächtigen vor sich hin und die von ihnen Regierten haben praktisch keine Chance, sich dagegen zur Wehr zu setzen. DIE PARTEI und damit auch Sonneborn haben es sich zur Aufgabe gemacht, diese Wahrheiten mit Humor und spitzer Zunge aufzudecken. Diesen Stiefel ziehen sie durch, immer und immer wieder. Es ist auch durchaus legitim, dies zu tun, doch kann die Arbeit der PARTEI eigentlich nur der erste Schritt auf einem Weg zur Besserung sein. Denn obwohl Sonneborn als Politiker ins Europaparlament gewählt wurde, scheint er relativ wenig Politik zu machen. Vielmehr beschäftigt er sich mit Recherchen, Beobachtungen und (politischen) Aktionen. Von tatsächlicher politischer Arbeit – also letztlich dem Zersetzen der Institution EU von innen heraus – erfährt man als Leser jedoch fast nichts. Das ist schade. Schließlich kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass man es hier mit einem Mann zu tun hat, der das Herz am rechten Fleck trägt (nämlich links) und der sich von einem zielsicheren moralischen Kompass leiten lässt – etwas, dass Politikern in der Regel zu fehlen scheint. Wie wäre es, wenn er dies auch in wirklicher politischer Arbeit einbringen würde? Nun ja, vielleicht tut er das ja auch, nur erfährt man aus seinem Buch recht wenig davon. Man muss nicht mit jeder von Sonneborns Positionen zu bestimmten Themen übereinstimmen. Die Lektüre dieses Buchs wird sich trotzdem lohnen, denn ein so geballter Schatz an gesammelten Geschichten zu Korruption, Bestechlichkeit und Vetternwirtschaft in unserer ach so hehren und demokratischen EU findet sich sonst selten. Es besteht während der Lektüre natürlich die Gefahr, dass man in eine politische Depression abgleitet. Dagegen kann – und will – scheinbar auch Sonneborn nichts tun. Die Wahrheiten, die er verkündet, kommen vielleicht mit einer Pointe daher, aber sie tun weh und machen wütend. Darauf sollte man auf jeden Fall gefasst sein, wenn man dieses Buch zur Hand nimmt. Eine Pflichtlektüre für jeden, der in der nächsten EU-Wahl an die Urne tritt. Und auch für alle, die dies nicht tun werden.