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Buchdoktor

Posted on 25.4.2024

Als Katrin Seyferts Mann Marc sich mit Anfang 50 dem Diagnoseverfahren wegen Verdacht auf Alzheimer unterziehen musste, lautete die Diagnose nach ICD-10: Alzheimer G30 Typ2 mit frühem Beginn, die voraussichtlich einen rapiden Verlauf haben würde. Als Mediziner waren ihm die Konsequenzen frühzeitig klar. Für die Familie mit drei Kindern zwischen 6 und 10 Jahren folgten 5 dramatische Jahre, bevor Marc Seyfert 2022 noch während der Corona-Pandemie an seiner Erkrankung versterben würde. Die Autorin beschreibt den Verlauf der Krankheit streckenweise mit bitterer Ironie. Vermutlich können sich Nichtbetroffene nur schwer vorstellen, auf wie viel Unverständnis und mangelnde Fachkenntnis betroffene Familien noch vor Diagnose und der Bewilligung einer Pflegestufe bei Ärzten und medizinischen Personal treffen können. Auch habe ich mich gefragt, wie eine Familie neben der Organisation des übrigen Alltags ohne eine Organisatorin mit Managertalent überhaupt klarkommen kann. Die Ehe zu dritt, in der der dritte Partner die Krankheit ist, erhält bei Seyferts außergewöhnlich kreative Hilfe von Freunden, die weit über das Vorbeibringen einer warmen Mahlzeit in Krisenzeiten hinausgeht, die standardmäßig in Romanen vorkommt. Gerade als eine Betroffene unterstützende Person kann man von Humor, Kreativität und der Sicht der Kinder der Seyferts viel lernen. Der längere Teil des Buches befasst sich mit der Zeit nach dem Tod von Katrins Seyferts Mann, ihrem Trauerprozess und dem ihrer Kinder. Dieser Abschnitt wird gezwungenermaßen zum feministischen Text, da für pflegende und verwitwete Angehörige offenbar noch immer verknöcherte Rollenklischees gelten. Pflegende Männer werden in umfangreichen Reportagen als Helden gefeiert, während pflegende Frauen allein aus Zeitmangel aus der Öffentlichkeit verschwinden. Verwitweten Männern wird ein eigenes Leben mit neuer Partnerschaft zugestanden, verwitwete Frauen werden dagegen zu tapferen Frauchen erklärt und ihnen wird (hier) Hilfe beim Ausfüllen von Online-Überweisungen angeboten. Fazit „Lückenleben“ ist durch die Schriftgröße komfortabel zu lesen (wer in Klinikfluren ohne Leselicht wartet, wird das schätzen), sprachlich jedoch nicht niederschwellig, obwohl es auch beim Thema frühe Demenzerkrankung Bedarf an Büchern gibt „ohne zu viele Fremdworte“. Kompensationsrhetorik als Begriff ist für mich die Latte zum Genre „Akademiker:innen schreiben für Akademiker:innen“. Zum Thema biografischer Ansatz (welcher Mensch war Marc Seyfert und wie hat das seine Betreuung bestimmt) und durch umfangreiche Literaturhinweise konnte ich vom Buch profitieren. Beeindruckt hat mich besonders die Sicht der Kinder, für die ich mich stets interessiere. Oscar Seyfert hat aus seiner Sicht ein eigenes Buch verfasst Vom Privileg … . Stellvertretend für die Unterstützerszene sei hier die rührende Unterstützung der Nachbarin Marianne genannt – für Unterstützer Betroffener empfehle ich das Buch ausdrücklich.

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