Buchdoktor
Elsie Lane ist 17, unendlich naiv und wird von den Eltern streng kontrolliert, nachdem ihre 10 Jahre ältere Schwester Leonora vor Jahren aus dem Dorf in Cornwall flüchtete, um irgendwo „in Sünde“ zu leben. Als statt des erfahrenen Hausarztes dessen sehr junger Vertreter zu einem Hausbesuch bei den Lanes erscheint, setzt das eine Reihe dramatischer Ereignisse in Gang. Peter Bracknell hat offenbar nicht nur ein verdächtiges Interesse an zu jungen Frauen, sondern hält seine küchenpsychologischen Weisheiten für unentbehrlich für jede Frau, die seinen Weg kreuzt. Ohne ihn als Hobby-Therapeuten kann keine Frau vollständig sein. Indem Elsie „Leo“ auf einem Hausboot auf der Themse ausfindig macht und bei ihr einzieht, lenkt sie wie bei einer Fuchsjagd Peter auf die Spur der innigen Beziehung zwischen der sportlich-androgynen Leo, ihrer Gefährtin Helen und dem auf einer Flussinsel lebenden Joe, zu dem wiederum Leo eine zugleich berufliche Beziehung pflegt – beide sind Autoren. Durch Peters Auftritt gerät die für die Zeit der Handlung in den 30ern noch ungewohnte Lebensweise jenseits heterosexueller Beziehungen aus dem Tritt. Für einen 1944 veröffentlichten Roman versammelt Mary Renault in „Freundliche junge Damen“ eine erstaunliche Vielfalt an Identitäten und Beziehungsebenen. Sehr gelungen fand ich die androgyne Leo und deren Leo-Sein, während Elsie und Peter in all ihrer klischeehaften Banalität für meinen Geschmack zu viel Raum erhielten. Dem Kultobjekt Hausboot auf britischen Flüssen und Kanälen wird leider weder die Beschreibung des Bootes im Roman gerecht noch das nichtssagende Cover der deutschen Ausgabe. Wenigstens den Fährmann, der die jungen Damen so „freundlich“ erlebt, hätte ich mir abgebildet gewünscht. Fazit Mit dem Wissen, dass 1945 Europa in Trümmern liegen und rein rechnerisch allein die Bevölkerungsentwicklung die heterosexuelle Alleinverdiener-Ehe in die Warteschleife schicken würde, wirkt Renaults Roman auf mich wie eine hochironische psychologische Studie zu Identität, Diversität und leider auch mangelnder Souveränität ihrer queeren Figuren. Da der Roman als Replik zu Radclyffe Halls "The Well of Lonlyness" (1928) verfasst wurde, erschließt er sich vermutlich leichter nach dessen Lektüre und einem Blick in Renaults Biografie.