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Wir haben es geahnt (oder sogar schon gewusst): Auch im Bereich Medizin/Gesundheit steht es in unserem Lande hinsichtlich der Digitalisierung bzw. des KI-Einsatzes nicht gerade zum Besten. Der frühere Klinik-Arzt und aktuelle Medizin-Start-Upper JUNGMANN gibt uns einen informativen und praxisnahen Einblick in die Details und entwickelt Perspektiven sowohl für die nähere, als auch für die weitere Zukunft. Der Autor holt uns bei der aktuellen Diskussion um die “Digitale Patientenakte” ab. Was in der eher verschlafenen deutschen Digital-Kultur als revolutionären Fortschritt – natürlich von zahlreichen Bedenken begleitet – diskutiert wird, stellt für JUNGMANN einen viel zu zaghaften und wenig effektiven ersten Schritt dar. Statt nämlich die Aufbereitung und Zugänglichkeit der dort gesammelten Daten nach einheitlichen Standards zu organisieren, bietet das seit Jahren umkämpfte System die Raffinesse einer “Aldi-Tüte” (in der Einzeldaten einfach nur gesammelt, keineswegs aber auch für einen Notfall nutzbar sind). JUNGMANN greift immer wieder auf Beispiele aus dem Klinik-Alltag zurück, insbesondere auf die aufreibende Situation in der Notaufnahme. So wird uns die Ineffektivität und Rückständigkeit der Prozesse und der daran beteiligten technischen Ausstattung sehr hautnah und mit geradezu beängstigender Detailliertheit vermittelt. Der Autor beschreibt auch ungeschminkt den Preis, den die althergebrachten Abläufe sowohl für die Patienten, als auch für das permanent überforderte medizinische Personal hat. Seine Forderung ist glasklar: radikale Verschlankung der Routine-Aufgaben und der bürokratischen Zeitfresser durch konsequenten Einsatz von Digital- und KI-Technologien bei Datenauswertung, Diagnostik, Patienten-Basis-Information und Dokumentation. Die eingesparte Zeit könnte dann in eine vertiefende Patienten-Kommunikation und die Beschäftigung mit speziellen Anforderungen investiert werden. Doch JUNGMANNs Mission geht über eine Effizienzsteigerung für das System Krankenhaus weit hinaus: In seiner zukünftigen Gesundheits-Medizin geht es nur noch am Rande um die immer gleichen Standard-Therapien für die immer gleichen Volkskrankheiten. Stattdessen sollen (und – so der Autor – werden) zukünftig – immer mehr Daten aus der Begleitung und Überwachung unserer Vitalfunktionen einfließen (von der Fitness-Uhr bis zu neuartigen inneren Sensoren), – auf der Basis von DNA-Analysen, eigener Krankengeschichten und Persönlichkeit mit Hilfe von KI individualisierte Therapiepläne entwickelt und – die maßgeschneiderte Gesundheitsförderung und -prophylaxe immer stärker an die Stelle einer rein kurativen Medizin treten (was auch die Eigenverantwortung für das Gesundheitsverhalten beinhalten wird). JUNGMANN lässt auch das leidige Thema “Datenschutz” nicht aus. Er macht deutlich, dass ihm – bei aller Kritik an den typisch deutschen Bedenkenträgern – dieses Thema keineswegs gleichgültig ist. Allerdings sieht er keine grundsätzlichen Probleme, auch hier innovative technische Lösungen zu finden. Erste Ideen dazu trägt er vor. Man spürt dem Autor seine innere Beteiligung an dem Thema deutlich an: Nicht nur hat das (frühere) Leiden an Stress, Frust und Überforderung Spuren hinterlassen, sondern auch die Begeisterung und das Engagement für die als notwendig erachteten Innovationen kommt rüber. Der Autor schreibt kein nüchternes Sachbuch, sondern (auch) einen persönlichen Erfahrungsbericht, einschließlich der emotionalen Aspekte. JUNGMANN setzt sich auch mit seiner Entscheidung auseinander, sich aus dem Brennpunkt des klinischen Geschehens verabschiedet zu haben. Damit macht er auch offen, dass sein Buch auch ein wenig als Lobbyarbeit für die Produkte verstanden werden könnte, die er als Start-Up-Unternehmer in diesem Bereich entwickelt hat (und entwickeln wird). Man hat aber an keiner Stelle den Eindruck, dass dies die Glaubwürdigkeit seiner Ausführungen relativieren könnte. JUNGMANN legt ein für ein breites Publikum gut lesbares Sachbuch zu einem extrem relevanten Thema vor. Spontan entsteht beim Lesen der Gedanke, dass möglichst alle Gesundheitspolitiker mehr als einen kurzen Blick hineinwerfen sollten.