Buchdoktor
Im dritten Band der Schwesternglocken-Trilogie folgen wir ab circa 1940 den Zwillingen Tarald und Astrid Hekne. Sie sind Kinder von Jehans und Kristine, die im zweiten Band durch Bau und Organisation von Molkerei und Stromversorgung dem abgelegenen Butangen/Gudbrandstal den Schritt ins 20. Jahrhundert ermöglichten. Die Eltern der Zwillinge sind neben der Hofarbeit als Bauern ständig in ihrem kleinen Unternehmen beschäftigt und von der Zuverlässigkeit ihrer Angestellten abhängig. Gemeindepfarrer Kai Schweigaard, bereits seit 1879 im Amt, stellt die Verbindung zum Heknehof dar, auf dem vor 400 Jahren der legendäre Wandteppich gewebt wurde und von dem die Schwesternglocken gespendet wurden. Der Wandteppich enthält eine Prophezeiung, mit der sich Schweigaard mit inzwischen über 80 Jahren endlich auseinandersetzen muss. Voraussetzung dafür ist eine Archivrecherche über die Amtszeit seines Vorgängers Krafft. Dass Schweigaard zu Beginn seiner Amtszeit dem Verkauf der historischen Stabkirche nach Dresden zugestimmt hat, und damit letztlich nicht nur die Schuld an der Trennung der beiden Glocken trägt, hat Kai bis heute nicht verwunden. Ein weiteres Band besteht nach England zu Victor Harrison, Astrids Onkel, den ihr Vater erst als Erwachsener kennenlernte. Im großen Erzählbogen blickt Lars Mytting zurück auf die 1595 geborenen Hekne-Schwestern Halfrid und Gunhild, außerordentlich begabte Weberinnen und als siamesische Zwillinge geboren. Die Legende der Schwestern steht für Traditionen und Aberglauben in einer abgelegenen Gegend, in der man zunächst über den See gerudert werden musste, um sein Dorf verlassen zu können. Während sich abzeichnet, dass keins der Heknekinder den Hof übernehmen wird, besetzen 1940 die Deutschen Norwegen. Astrid muss ihre eigene Ausbildung abbrechen. In der Rolle der Fahrerin des Milchautos, das die Milch von den Höfen abholt, übernimmt sie in der Zeit der Besatzung für das Informationsnetz XU die lebensgefährliche Informationsbeschaffung über jede Bewegung der Besatzungsarmee in ihrem Dorf. Die Heknes waren schon immer schnell entschlossen, eine Idee umzusetzen. Jehans und Kristine haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts in dieser Tradition ihre Heimatregion wirtschaftlich vorangebracht. Da die gesamte Viehwirtschaft von ihnen abhängig ist, machen sie sich nicht nur Freunde, was während der deutschen Besetzung und der erstarkenden "Nasjonal Samling" (Nationale Sammlung, Quisling) deutlich wird. Lars Mytting zeichnet wie in den Vorgängerbänden wieder liebevoll und äußerst glaubwürdig eine Vielzahl von Haupt- und Nebenfiguren. Schon in „Die Birken wissen’s noch“ habe ich seine akribische Recherche bewundert. Wenn er handwerkliche Tätigkeiten oder Alltagsgegenstände beschreibt, hat das Hand und Fuß und man spürt die Achtung, die seine Figuren der Handwerkskunst entgegenbringen. Mytting beschreibt Kleidung, Gegenstände, Landschaft wie seine Figuren sie sehen und ragt damit weit aus dem Durchschnitt seiner Profession heraus. Bei Jehans und Victors Jagdwaffen, Angeln, Sensen, Lieferwagen und Fahrzeugen kann man als Leser:in tief in Myttings Liebe zum Detail eintauchen. Äußerst gelungen finde ich (in der deutschen Übersetzung) den Einsatz des lokalen Dialekts im Wechsel mit der Hochsprache von Städtern oder Besuchern. Ein eigenes Kunstwerk ist die Personen-Liste für alle drei Bände im Anhang (die ich in alphabetischer Ordnung vorgezogen hätte), in dem außer geliebten Nutztieren, die oben zitierten Waffen, Boote und Gerätschaften liebevoll aufgeführt werden, als seien sie handelnde Figuren. Nicht zu vergessen der Hinweis im Anhang auf den historischen Hintergrund: Die Bombardierung von Elverum (Exil des norwegischen Königs) und der Einsatz von Zwangsarbeitern für den Bau der heutigen E6. Fazit Der Enkelin der 1859 geborenen Astrid Hekne (aus Band 2) kommt im Abschlussband der Trilogie eine wichtige Rolle während der deutschen Besetzung Norwegens zu. Verlorenes kann geborgen werden, Handlungsfäden sind am Ende erfolgreich verknüpft und Rätsel um die Weberinnen Halfrid und Gunhild gelöst. Dem hochbetagten Pfarrer Schweigaard wird damit das Loslassen seiner Gemeinde erleichtert. Neben berührender Familiengeschichte, altem Aberglauben, Herkunft und Abstammung geht es in Myttings üppiger Chronik auch um wirtschaftliche Entwicklung, Handel und Verkehr auf dem Weg ins 20. Jahrhundert.