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sophiesyndrom

Posted on 6.4.2024

Ich habe einige Zeit gebraucht, Worte für dieses Buch zu finden. Aber Worte müssen gefunden werden. Grausamkeiten müssen benannt werden. Die Autorin Adania Shibli erzählt von der Vergewaltigung und Ermordung eines palästinensisches Beduinenmädchens im Sommer 1949 und einer jungen Frau aus Ramallah, die knapp fünfzig Jahre später diesem schlimmen Verbrechen nachgehen möchte. Dabei teilt sich der Roman anhand dieser zwei zeitlich auseinanderliegenden Handlungspunkte in zwei Abschnitte auf, die sich auch in der Art des Erzählens unterscheiden. Es ist – auch für den weiteren Verlauf der Handlung – bezeichnend, dass der erste Teil aus der Perspektive des israelischen Offiziers erzählt wird. Der Person, die mitunter vergewaltigt und ermordet. Das Leid des Benduinenmädchens ist klar zu erkennen, die grausamen Szenen brennen sich ins Gedächtnis, aber ihre Sicht, ihre über das Leid hinausgehende Geschichte bleibt im Verborgenen und kann auch nicht im späteren zweiten Teil des Romans aufgedeckt werden. Die Nachforschungen der jungen Ich-Erzählerin aus Ramallah bleiben erfolglos, die eigene Geschichte, die Identität eines Volkes verloren. Was bleibt, ist eine eiternde, sich immer wieder von neu entzündende Wunde. Aus der Zeitung erfährt die Ich-Erzählerin von dem Schicksal des ermordeten Mädchens. Ein Schicksal, das, so grausam es auch sein mag, nichts ungewöhnliches ist. Doch eine Nebensächlichkeit – die Tatsache, dass das Verbrechen auf den Tag genau 25 Jahre vor dem Geburtstag der Ich-Erzählerin stattfand – verleitet die Protagonistin dazu, sich mehr damit auseinandersetzen zu wollen. Ihre Reise auf der Suche nach Antworten ist geprägt von militärischen Einschränkungen und einem Blick in eine längst überzeichnete Vergangenheit. Je länger die Reise dauert, desto mehr Dörfer entdeckt die Ich-Erzählerin auf ihren alten Landkarten, die zerstört wurden. Shibli schafft es so, Vergangenheit und Gegenwart übereinanderzulegen, Verbindungen zu ziehen und Leerstellen zu füllen. Der Roman von Adania Shibli ist symbolgeladen, sprachlich tief und augenöffnend. Ein Buch, das mich weiterhin begleiten wird und hoffentlich noch mehr LeserInnen erreicht.

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