zauberberggast
Schein und Sein im Wattenmeer Untergegangene Inseln tragen immer gerne zur Mythenbildung einer Kultur bei. In der Nordsee ist es die Insel Strand mit dem legendären untergegangenen Ort Rungholt, der die Menschen an der Künste und darüber hinaus noch bis heute fasziniert. Obwohl es die Insel Strand heute nicht mehr als Ganzes gibt (die Reste der Insel sind heute die Inseln Nordstrand, Pellworm und die Hallig Nordstrandischmoor), bezeichnet Kristin Höller ihren Schauplatz in “Leute von Früher” schlichtweg als Insel “Strand”. Auf Strand heuert die 29-jährige Marlene aus Hamburg als Saisonkraft in einem Museumsdorf an. Schnell wird das Leben zwischen Containerunterkunft und Kostümgrenze mit ihrem Arbeitsplatz im Kramladen bei Arno zur eingespielten Routine. Ihr Leben in Hamburg, die noch junge Beziehung zu Paul, ihre besten Freund:innen Luzia und Robert, die Eltern, die einen Prozess am Laufen haben - alles nur noch eine ferne Erinnerung. Dazu trägt auch die geheimnisvolle Janne bei, die in der Fischräucherei arbeitet. Die Frauen kommen sich näher, doch was ist auf der Insel im Wattermeer überhaupt echt und was nur Kulisse? Dieser Roman ist Eskapismus pur. Ich möchte nach der Lektüre jetzt bitte auch gerne ganz dringend nach Strand, um kostümiert in diesem Dorf zu arbeiten. Ich will mit den Bewohner:innen der Insel das Johannisfest feiern, ich möchte eine Janne und ihren Räucherduft kennenlernen, ich will diesen älteren Kollegen beobachten, der immer die Sportschau auf dem Handy schaut. Natürlich möchte ich auch mit Arno und seinen Kindern einen Auflauf essen und mir von Barbara die Karten legen lassen. Aber wenn ich dann so darüber nachdenke: Vielleicht möchte ich es auch wieder nicht - und das hat nicht nur mit den Geistern der Insel zu tun, sondern auch mit dem steigenden Meeresspiegel… Erzählweise und Sprachstil dieses auch optisch wunderschön gestalteten Buches sind unaufgeregt, bildhaft und gleichzeitig schnörkellos modern. Es wird in jedem Fall eine bestechend maritime und mystische Atmosphäre erzeugt, ohne dass es jemals “drüber” ist. Wer Freude an metaphorischen Umschreibungen für das lesbische Liebesspiel hat, wird hier auch einige finden, ich sage nur Austern und Orangenschale. Man sollte auch für magischen Realismus etwas übrig haben, denn ganz ohne ihn kommt dieses Buch nicht aus. Was mir besonders gefallen hat, ist die Topographie der Insel. Hier wird eine sehr spannende erzählerische Welt erschaffen, die einem schon nach kurzer Zeit sehr vertraut vorkommt. Obwohl dem Buch keine “Landkarte” beigegeben ist, baut sich die Insel im Kopf der Leser:innen zu einem perfekten Mikrokosmos auf - vom reetgedeckten Edeka, über den “Friedhof der Namenlosen” bis hin zur Fischräucherei und Jannes Zuhause in der ehemaligen Vogelwarte. Auch die ganze Mystik und Legendenbildung, um die sich alles dreht, hat mich hier nicht abgeschreckt, sondern zur Spannung des Plots beigetragen. Die erzählerische Detailverliebtheit hat mir ebenfalls sehr gefallen, vor allem wenn es um die genaue Beschreibung der Nahrungsmittel, das Umetikettieren, die Fischereiprodukte, etc. ging. Das Thema Schein und Sein wurde jedenfalls für meine Begriffe perfekt umgesetzt. Was soll ich noch sagen, außer: Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen und kann es allen empfehlen, die gute Geschichten zu schätzen wissen.