zauberberggast
Was sind die tragischen Figuren unserer Gegenwart? In Shakespeares Dramen waren es die Herrscher und die Usurpatoren, die sich nicht selten eine Schlacht um den Thron lieferten. Heutzutage sind es immer mehr die Weltpolitiker, Tech-Magnaten und Großindustriellen und auf der anderen Seite Klimaschützer:innen wie Greta Thunberg und ihre Bewegung “Fridays for Future”. Die einen kämpfen für sich selbst bzw. ihr Image, die anderen für nichts weniger als die Zukunft unseres Planeten. Eleanor Catton, die jüngste Booker-Prize-Trägerin aller Zeiten (sie gewann den Preis 2013 für “The Luminaries”) hat sich in ihrem Roman “Birnam Wood” (auf Deutsch schlicht “Der Wald”, übersetzt von Meredith Barth und Melanie Walz) ebenfalls mit dem Kampf Gut gegen Böse, Wirtschaft vs. Umwelt, Kapital vs. Moral auseinandergesetzt. Nicht umsonst heißt das Kollektiv, das die Protagonistin Mira gegründet hat, “Birnam Wood”, ein Begriff der Shakespeares Tragödie “Macbeth” entnommen ist. Worum geht es? Neuseeland im Jahr 2017. In Christchurch gibt es seit einigen Jahren das Guerrila-Gardening-Kollektiv “Birnam Wood”. Die Gründerin Mira und ihre gute Freundin Shelley stehen an einem Wendepunkt. Shelley möchte die Gruppe verlassen und Mira driftet ein bisschen orientierungslos dahin. Mira wird auf ein Grundstück in Thorndike am Rande des Korowai-Nationalparks aufmerksam, das sich perfekt für ihre gärtnerischen Aktivitäten eignen würde. Dieses Grundstück des gerade zum Ritter geschlagenen Schädlingsbekämpfers Owen Darvish wiederum möchte der durch Drohnen reich gewordene amerikanische Milliardär Robert Lemoine erwerben, um dort einen Bunker zu bauen. Er bietet Mira und “Birnam Wood” an, ihre Pflanzungen auf dem Gelände zu betreiben, außerdem will er sie mit einer großen Summe finanzieren. Ist dies die Rettung des Kollektivs oder ein Pakt mit dem Teufel? In ihrem Roman wirft Catton viele Fragen auf, die wir uns als Menschen des 21. Jahrhunderts stellen müssen. Zum Beispiel, wie weit Digitalisierung und Selbstoptimierung gehen dürfen. Ob es nicht zutiefst menschlich ist, Fehler machen zu dürfen und nicht perfekt zu sein. Was wären Kunst und Kultur, wenn sie nicht das menschlich Fehlerhafte zum Thema hätten? Was macht dieses Streben nach Perfektion und Unsterblichkeit mit uns? Tony ist die Figur im Roman, die den Selbstoptimierungswahn, die Skrupellosigkeit und Amoralität, die in der Figur des Lemoine auf die Spritze getrieben wird, anprangert. Mira, die Gründern von Birnam Wood, ist hin- und hergerissen zwischen dem charismatischen Multimillionär, der sich Unsterblichkeit erkaufen will und dem erfolglosen Gelegenheitsjournalisten, der das menschlich Fehlerhafte, aber auch das uns Menschen inhärente Streben nach moralischem Handeln verkörpert. Wer wird am Ende mit seinen Positionen reüssieren? Oder kann niemand gewinnen, weil wir am Ende alle in einem Boot sitzen? Zentral ist auch die Frage, wie weit Überwachung gehen darf. Sind Drohnen nicht zutiefst unmoralisch und wird uns diese Technik nicht letztlich mehr Schaden als Nutzen bringen? Ich betonte immer wieder gerne in meinen Rezensionen, wie sehr ich es mag, wenn ein Roman durch Originalität besticht. “Der Wald” ist mal wieder so ein Buch. Die Konstellation Guerilla-Gardening-Kollektiv trifft shady Multimilliardär-Prepper ist definitiv eine, die mir so noch nie erzählt wurde. Außerdem ist mir Neuseeland als literarischer Schauplatz auch relativ neu. Für einen literarischen Roman ist “Der Wald” ungeheuer fesselnd. Der Plot ist einfach spannend im klassischen Sinne. Man will unbedingt wissen, welchen Schachzug die handelnden Personen bzw. Parteien als nächstes ausführen. Die berühmte “Sogwirkung” ist meiner Meinung nach voll gegeben. Es wechseln sich Phasen der eingehenden Charakterisierung der einzelnen Personen mit solchen der Plotentwicklung ab, wobei im letzten Drittel die Handlung erst richtig an Fahrt aufnimmt. Ab diesem Zeitpunkt kann man wegen der Spannung und des rasanten Erzähltempos das Buch nur noch schwer aus der Hand legen. Ökothriller ist meines Erachtens wirklich die richtige Gattungsbezeichnug. Die Übersetzung ist zu Beginn etwas holprig und gestelzt, wird dann aber zunehmend besser. Manchmal gibt es aber nach wie vor kleine Ungereimtheiten. Zum Beispiel bezeichnet eine Person eine andere als “du Dreck” (S. 480). Würde man das so sagen? Ich kenne das Original nicht, könnte man aber vorstellen dass so etwas gesagt wurde wie “you piece of shit”, was ich dann eher als “Du Drecksack”, “Du Abschaum” oder “Du Dreckstück” übersetzt hätte. Was ich ebenfalls nicht ganz nachvollziehen kann, ist die Entscheidung des Verlags, das Buch “Der Wald” statt “Birnam Wood” zu nennen. Selbst wenn einem der Begriff Birnam Wood nichts sagt und man nicht weiß dass es ein Zitat aus “Macbeth” ist, so kann man das erstens googeln und zweitens wird es im Text ausführlich erklärt. Finde ich etwas schade dass man hier den deutschen Leser*innen so wenig zutraut, zumal ja nicht wirklich ein “Wald” eine Rolle spielt im Roman. Dann hätte man eher sowas wie “Das Kollektiv” nehmen sollen. Ein weiteres Manko ist meines Erachtens, dass es den Charakteren oft an Tiefe fehlt. Vor allem Lemoine ist sehr klischeehaft gezeichnet und Mira und Shelley sind als Persönlichkeiten zu flach und austauschbar. Alles in allem ist das Buch dennoch ein sehr spannender literarischer Gegenwartsroman, der viele Fragen unserer Zeit aufwirft und mit einem der krassesten Enden schockiert, die ich seit Langem gelesen habe, welches ich mir aber trotzdem etwas anders gewünscht hätte. Triggerwarnung: Drogenmissbrauch, Gewalt, Mord, Umweltzerstörung