stefanie aus frei
S. 478 „Was ist so falsch daran, wenn einer rauswill aus’m Dreck?“ Nichts. Erst mal. In Europa ging alles den Bach runter, in einer alternativen Entwicklung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (warum und wie, wird erklärt). Afrika ist reich (warum und wie, aus all den Überresten der Kolonialzeit, der Zersplitterung - wird nicht erklärt). Josua Brenner lebt in Berlin - er ist Ich -Erzähler und schreibt auf, wie sein Leben in Berlin verlief, bis er dort genug hatte. Die Realität sieht unter anderem so aus: Wir kaufen in Europa vom Geflügel die zarten Teile, den Rest schaffen die Erzeuger gerne billig nach Afrika. Keine Chance für die heimischen Landwirte dort. Wir wollen Fisch - also wird mit riesigen Pötten vor Afrika gefischt und die heimischen Fischer müssen für immer weniger immer weiter raus. Wir schaffen da unseren Computerschrott hin, unsere Altautos (o.k., es gibt keine afrikanischen Autohersteller meines Wissens - aber wir diskutieren hier Schadstoffe und schaffen den Schrott weiter in die Welt??). Für Touristen wird in armen Ländern eine Parallelwelt geschaffen mit einheimischem Personal, aber nicht gerade betrieben von einheimischen Firmen. Dazu die Ausbeutung von Rohstoffen und seltsame "Entwicklungshilfe", die meist eher Subventionierung der jeweiligen Industrie der Länder ist, aus denen die Hilfe kommt. Also sind "wir" nicht so ganz unbeteiligt daran, dass die Menschen z.B. in Afrika nicht gut leben können sprich: an den Flüchtlingsströmen. Solche Hintergründe finde ich im Roman nicht - das halte ich aber für wichtig, es soll ja wohl eine Darstellung sein, die Afrika und Europa quasi vertauscht, uns den Spiegel vorhält. „Was ist so falsch daran, wenn einer rauswill aus’m Dreck?“ Naja - im Buch haben nur die Schlepper etwas von dem Bestreben, aus dem Dreck heraus zu wollen. In der Realität immer auch die, aber sicher ebenso Organisationen, die Eingliederungs- und Sprachkurse anbieten, Privatleute, die teils Schrottwohnungen für Flüchtlinge herrichten, Obstplantagen im Süden mit Zuständen, die eher Sklaverei sind (ich rede NICHT von den freiwilligen Helfern). Keine Sprachkurse, keine Wohnungen sind auch keine Alternative. Aber so eine "Industrie" gab es schon mal, als man mit Verschrottungsprämien die Autoindustrie stützte (die haben das so in die Preise eingerechnet, dass man da ohne Verschrottung besser kein Auto kaufte) oder als man die Selbständigkeit förderte (Ich-AG, Gründungs-irgendwas - jede Menge Kurse rings um die Ämter, privat, aber quasi mit Job-Garantie). Ich finde die Ausbeutung gut dargestellt, aber längst noch nicht detailliert genug. Es gibt Leute, die haben ein Interesse daran, dass es Flüchtlinge gibt - das ist deren Geschäftsmodell! Für mich ist das Asylrecht unanfechtbar - es wurde nach WWII so geschaffen, weil Juden, die aus Deutschland flohen, häufig nirgendwo angenommen wurden. Im Buch geht es um Migration ohne Verfolgung - Torkel zeigt auf, wie mies die Ausnutzung unterwegs ist. Einverstanden - dagegen. Ich hatte vorher schon eine Reportage von der Behandlung von Flüchtlingen auf Obstplantagen im europäischen Süden gesehen - das ist Sklaverei, es gibt da nicht im Ansatz ausreichend Bekämpfung. Aber noch wichtiger wäre die Bekämpfung von Fluchtursachen. Was soll denn passieren, wenn primär die jungen Männer gehen? Wie sollen die am Ziel wirklich "ankommen"? Es gibt jetzt schon in Europa, im Osten, ganze Gegenden, da haben die Eltern im "Westen" Arbeit und die Kinder werden von Großeltern erzogen (in Afrika gab es das bislang "nur" bei AIDS-Waisen - wohin führt das noch "obendrauf"?). Mit wem verhandeln unsere Regierungen in Ländern mit Korruption, wegen "der Stabilität"? Wie sollte Entwicklungshilfe stattfinden? Brauche ich T-Shirts für 2,-? Deutschland vergreist, braucht Fachkräfte - also ein "Brain-Drain" in den Herkunftsländern und noch mehr Fluchtgründe? Gegen das elendige Absaufen im Mittelmeer freie Flüge - und dann ist das Geschäftsmodell der Schlepper vielleicht Erpressung, "ich beschieße eure Flüge oder ihr zahlt", ähnlich der Piraterie vor Afrikas Küsten? (und nein, eine Lösungsidee habe ich nicht - nur Baby-Schritte, wie ein Verbot des Verkaufs von Kleiderspenden und Altkleidern nach Afrika oder die Fischerei zu verhindern, die Kleinfischern die Lebensgrundlage entzieht und eine Aufstockung von Entwicklungshilfe, ECHTE Unterstützung statt Hilfe von oben herab) Ich kann mich darüber hinaus insofern nicht mit Josua identifizieren, weil ich seinen Weggang nicht nachvollziehen kann (gefühlt hat der Autor so etwas geahnt und deshalb den Unfall mit Todesfolge eingebaut - interessant, dass der später unwichtig gewesen zu sein scheint). Josua wollte in Berlin mit den großen Hunden bellen - und musste dafür das Beinchen heben. Schutzgelderpressung kann einem Gaststättenbetreiber wohl leider auch heute begegnen, oder Anwohner klagen ihn zu. Der wäre ebenso im "realen" Deutschland verdammt naiv an die Sache herangegangen. Ich schaffe es nicht, mich in "seine Schuhe" zu stellen. Also: "guter Ansatz" (netter Ansatz, so weit hinunter würde ich nicht gehen). Ich fand die Flüchtlingsthematik in "Exit West" von Mohsin Hamid besser angedacht, geschickter im Fabulieren von Möglichkeiten, Wirkungen, Gefahren, Ideen. Mir geht Torkler nicht weit genug zu den Ursachen (gut ist hier "Das Meer" von Fleischhauer, allerdings eher ökologisch, nur zum Teil zu den Menschen), er geht mir nicht weit genug zu den Begleitumständen, der Bekämpfung von Flucht zuungunsten einer gewissen Naivität, die rein auf Sympathie abzielt. Herrje, muss man wirklich begründen und aufbauen wie im Buch, dass/damit man Sympathie, Mitgefühl mit jemandem empfindet, der alles hinter sich lässt, sein Leben riskiert? Mit einer Lösungsidee hatte ich auch nicht gerechnet, aber mit irgendetwas, was mir noch neu war. Der vorgehaltene Spiegel ist mir zu stumpf. Guter Ansatz, nicht ausreichend gut etwas daraus gemacht. 3 Sterne