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stefanie aus frei

Posted on 18.11.2018

„Es war eine Zeit der wahren und falschen Erinnerungen“ Die Jugendlichen Stitch und Ram leben im England der Nachkriegsjahre mit ihren Eltern, als diese wegen einer Beförderung des Vaters für ein Jahr nach Asien gehen wollen. Die Kinder werden Freunden überantwortet, die in das Elternhaus einziehen. Aus Stitch und Ram, den Spitznamen der Kindheit, werden recht einsam Nathaniel und Rachel. Für Rachel wird „der Falter“, der seltsame Freund der Eltern, zur Bezugsperson, während Nathaniel beginnt, den „Boxer“ bei dessen dubiosen geschäfltichen Unternehmungen zu unterstützen. Das Zusammenleben ist, vorsichtig gesagt, unkonventionell, und erfährt gelegentliche Erweiterungen mit anderen sehr speziellen Menschen. Auch wenn die beginnende Theaterkarriere von Rachel und die junge Liebe von Nathaniel mit Agnes von vielem ablenken, lässt sich bald nicht übersehen, dass einiges nicht stimmen kann an der Geschichte mit dem Auslandsaufenhalt. Als Erwachsener beginnt sich Nathaniel zu erinnern – und stellt Nachforschungen an. Sonst kann ich Hörbücher fast nur unterwegs hören, von diesem konnte ich daheim fast nicht lassen. Nicht nur der sehr angenehme Vortrag von Sprecher Frank Stieren in der ungekürzten Fassung sorgte dafür, auch die poetische und unaufgeregte Erzählweise, die ich gerade auch vorgelesen als ideal empfand, tat ihr übriges. Die Handlung schreitet langsam voran, beim CD-Wechsel fragte ich mich sogar, was denn überhaupt noch kommen könnte. Doch der Perspektivwechsel erwies sich wahrlich als Darstellung der zwei Seiten einer Medaille, wie Nathaniel noch weiter im Verlauf der Handlung erleben wird. Handlungsweisen wurden nachvollziehbar, die Schlusspointe hat mich völlig überrascht und umgehauen. Und ich sitze hier und überlege, was denn wohl sinnvoller sein mag: wie Rachel nur in der Gegenwart zu leben, aber die Vergangenheit völlig auf Abstand zu halten, oder wie Nathaniel bei seiner Suche in der Vergangenheit die Gegenwart ganz aus dem Blick verloren zu haben. Die Mutter der Kinder und ihre Gegenspieler dürfen sich diese Frage natürlich gleichermaßen stellen. Gibt es einen Kompromiss? Kann es einen geben? Die Stärke des Plots ist im Nachhinein für mich, wie synchron Beweggründe und Auswirkungen der Handlungen sind – gerade da, wo die Handlung als Gegenhandlung beabsichtigt war. Dazu rätsele ich seit dem ersten Kapitel, worin der Kunstgriff besteht, einen Text zu verfassen, der gleichzeitig SO beruhigend und SO spannend wirkt. Dazu bestärkt der Roman wie schon „Enigma“ von Harris die Aussage, dass im Krieg selbst mit den besten Absichten gerne Unschuldige zu Bauernopfern werden. Neben letzterem musste ich bei der Lektüre teils denken an Schlinks „Der Vorleser“ beim Zusammensein von Agnes und Nathaniel (eher wegen der Lebenserfahrung und des Bildungshintergrunds als wegen eines – hier fehlenden – Altersunterschieds) als auch an diverse Romane der Jugendliteratur zum Thema Krieg und Trennung von den Eltern. Der Effekt dürfte beabsichtigt sein, als Leser fühlte ich mich im Szenario sofort daheim, um dann festzustellen, dass Ondaatje eine ganz eigene Reise für den Leser plant. Toll! 5 Sterne.

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