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letterrausch

Posted on 22.2.2024

Was erwartet man von einem Sachbuch mit dem Titel „Zeit finden“? Etwas über die Schnelllebigkeit unserer heutigen Zeit? Über Kapitalismus? Oder vielleicht über Aussteiger, die sich dem durchgetakteten Leben entziehen? Meine Erwartungshaltung an die neue Veröffentlichung von Jenny Odell, die mit „Nichts tun“ einen durchschlagenden Erfolg landen konnte, war durchaus diffus. Allerdings stellte sich auch „Zeit finden“ als durchaus diffus heraus, was zu keiner sonderlich erhellenden Leseerfahrung führte. Ganz erwartbar geht es am Anfang um Arbeit. Es geht um die „Erfindung“ der Zeit, um Arbeit messen, quantifizieren und einteilen zu können. Das gilt sowohl für Sklaven- als auch für Lohnarbeit. Einiges in diesen Kapiteln ist leidlich interessant – wie zum Beispiel die Einführung einer einheitlichen Zeit oder der Zeitverschiebungen. Wie lange zum Beispiel in den USA verschiedene Zeiten vorherrschten und zu regelmäßigem Chaos führten (unter anderem beim Zugverkehr) ist überraschend, zumindest für die hier rezensierende Europäerin. Doch geht es leider viel zu lange zum selben Thema weiter: Schlagworte sind Kapitalismus, Sklavenarbeit, Lohnarbeit, Produktivität, Selbstoptimierung, Produktivitätstracker, Ratgeber und Apps zur Verbesserung der eigenen Leistungsfähigkeit. Zumindest ist hier noch ein Zusammenhang zum übergeordneten Thema „Zeit“ erkennbar. Das wird mit fortschreitender Lektüre immer schwieriger. Mal geht es um eine Bibliothek, mal um Überschwemmungen, mal um Corona und dann wieder um Waldbrände. Oft, leider viel zu oft, geht es um irgendwelche Instagram-Influencer, deren halbgares und oberflächliches Leben Odell vermutlich bloßzustellen versucht. Allerdings stellt sie nur ihre eigene Fixierung auf Apps und Online-Inhalte bloß – sie folgt nicht nur abstrusen Reisebloggern, sondern beobachtet auch stundenlang Vögel beim Ausbrüten ihrer Eier über Webcams auf YouTube. Diesen „Lastern“ lässt sie einen gesellschaftskritischen bzw. philosophischen Überbau angedeihen, um sie irgendwie mit Bedeutung aufzuladen. Das zündet nur leider recht selten, zeigt aber ein anderes Problem dieses Buchs: Es hat kein Sujet, kein Thema, das das Narrativ zusammenhalten würde. Letztlich geht es in „Zeit finden“ immer nur um Jenny Odell. Wäre dieses Buch ein persönlicher Weblog der Autorin, in dem sie Texte zu allen möglichen Themen verfasst, die sie zu einem bestimmten Zeitpunkt beschäftigen, so wäre dies völlig legitim. Man könnte den Blog lesen oder es lassen, man könnte in einzelne Texte tiefer einsteigen und andere völlig ignorieren. Man würde diesen Blog auf jeden Fall nur besuchen, wenn man die Autorin interessant und sympathisch fände. All dies sind jedoch völlig andere Voraussetzungen als die, die für ein Buch gelten. Und das macht die Lektüre leider sehr zäh. Man watet hier durch seitenlange Zitate aus Jenny Odells eigenen (Teenager)Tagebüchern, die genauso klingen, wie man sich Tagebücher von Teenagern eben so vorstellt (Hallo, Weltschmerz!). Man klickt sich mit ihr durchs Internet und das gesamte Buch ist gespickt mit kursiven Einschüben, in denen sie mit ihrem Partner wandert bzw. durch Kalifornien fährt. Was diese Einschübe genau bezwecken sollen, wird nie wirklich klar. Meistens haben sie absolut keinen Bezug zum Thema, das im jeweiligen Kapitel behandelt wird. Auf die Natur kommt Jenny Odell allerdings immer wieder zurück, zum Beispiel wenn es darum geht, dass unsere (Uhr)Zeit mit dem Kommen, Gehen, Werden und Vergehen in der Natur nichts zu tun hat. Jahreszeiten, Tageslängen, Tiden – die Natur hat einen anderen Zeitmesser. Das „Learning“ hierbei soll wohl sein, dass die Natur größer ist als wir selbst, dass wir in ihr als unbedeutend verschwinden. Wir stehen ihr sprachlos und beeindruckt gegenüber und sie überschattet alles, was unsere menschliche Entwicklung an Fortschritt gebracht haben mag. Ist das eine neue Erkenntnis? Nein. Nähert sich Odell diesem Thema auf irgendwie originelle Weise? Nein. Ihr Nature Writing ist banal, deskriptiv und flach. Nie schafft sie es, die Begeisterung für ihre Umwelt, die sie offenbar im Leser erwecken will, auch wirklich greifbar aufs Papier zu bringen. Meistens hat man den Eindruck, ein schöner Spaziergang hätte mehr gebracht als die Lektüre dieses Buchs. Das soll nicht heißen, dass dieses Sachbuch nicht seine Leser finden wird. Sie sollten nur möglichst einige Voraussetzungen mitbringen: Am besten kennt man die Autorin bereits von „Nichts tun“ und findet sie sympathisch. Man hat kein Problem damit, sich auf ihre teilweise zusammenhanglosen Kapitel einzulassen, die thematisch von hier nach da mäandern, ohne jemals auf ein abgestecktes Ziel zuzuarbeiten. Amerikanische, neurosengeplagte Mittdreißiger, die aufgrund der Schlechtigkeit der Welt in Depressionen verfallen, schrecken einen nicht bzw. man ist gerade an einem ähnlichen Punkt im Leben. Menschen, die mit sich im Reinen sind und nicht an jeder Ecke den drohenden Weltuntergang befürchten, werden wahrscheinlich entweder von diesem Buch genervt sein oder Mitleid mit der Autorin empfinden. Auch wenn „Zeit finden“ seine Momente und interessanten Einblicke hatte, herrschte für mich doch das Gefühl vor, meine investierte (Lektüre)Zeit eher verschwendet zu haben. Viel hängen blieb vom Gesagten nicht.

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