sophiesyndrom
Auf das Buch bin ich tatsächlich durch ein Seminar der Uni, in dem wir über die literarische Repräsentation von Behinderungen und Sensitivity Reading gesprochen hatten, aufmerksam geworden. Zeitnah hatte ich es dann gelesen und damit eine vielschichtig und interessante Lektüre. Was wohl bei diesem Buch besonders hervorzuheben ist, ist die sprachliche Komplexität, mit der Raffaella Romagnolo ihre Geschichte über Paola erzählt. Komplexität in dem Sinne, dass man als LeserIn stets mit Paolas Gedankenstrom und all ihren Abschweifungen konfrontiert wird. Es bedurfte etwas mehr Aufmerksamkeit, dem roten Faden zu folgen und alles richtig einzuordnen. Ich war ganz angetan von der Form des Erzählens, da man so die Protagonistin mit all ihren Ansichten, Unsicherheiten und Einschätzungen kennenlernte. Die Autorin schreibt mit voller Sprache, vielen Verzweigungen und Bezugnahmen. Hier möchte ich jedoch erwähnt haben, dass die Autorin bei der Einbindung von Beleidigungen auf andere Begriffe hätte zurückgreifen können, anstatt Rassismen zu reproduzieren. Im Rahmen der Handlung merkt man schnell, was Paola ganz zentral beschäftigt – ihr Gewicht. Als Leserin hat es mich mitgenommen, dass sie an ihrem Äußeren so gar kein gutes Wort lässt, aber das war leider Ergebnis ihres familiären und schulischen Umfelds. Ich hätte mir gewünscht, dass ihr Selbstbild im Laufe der Handlung etwas weiter aufgebrochen wird, doch eigentlich werden die verachtenden Bemerkungen anderer bis zuletzt von ihr als Wahrheiten bezeichnet. Das Konstrukt Schönheit hätte ich hier gern noch klarer diskutiert gesehen. Die Figuren Antonio und Marta (hier vor allem gegen Ende) waren jedoch schöne Lichtblicke, die Paolas Leben im positiven Sinne bereichert haben, und könnten auch so ein bisschen als Ausblicke auf Veränderungen dienen, die über die erzählte Geschichte hinausgehen. Über die Figuren vereint die Autorin recht viele Aspekte – schlicht alles, was ein Leben so zu erzählen hat. Dabei wird der Fokus vor allem auf die Frauen der Familie Di Giorgi gelegt, deren Hintergrundgeschichten im Laufe der Handlung vor einem ausgebreitet werden und Formen weiblicher Unterdrückung zeigen. Eine weitere wichtige Figur ist Paolas Bruder Richie, mit dem die Protagonistin wohl am meisten Zeit verbringt und sich am besten versteht. Richies Behinderung wird angenehm unaufgeregt in die Handlung eingeführt. Er sitzt im Rollstuhl und kurz wird erwähnt, dass er anders spricht – fertig. Im weiteren Verlauf werden seine Sprachhandlungen so erzählt wie die der anderen, was in mir den Gedanken aufkommen ließ, dass Romagnolo vermeiden wollte, Richie auf seine Behinderung zu reduzieren. Insgesamt war es so eine Geschichte, die ihre Stärken hatte, aber volle Begeisterung bei mir nicht entzünden konnte.