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stricki

Posted on 6.1.2024

Identifikation im digitalen Zeitalter Nathan Hill ist ein Meister der genauen Beobachtung und tief gehender psychologischer Zusammenhänge. So erzählt er in "Wellness" die Geschichten von Elisabeth und Jack über den Zeitraum 1993 bis 2015, und ergänzt diese um Details aus deren Familien und Familienchroniken, gespickt mit originellen Elementen der jeweiligen Epoche. Es ist eine so hinreißende Kennenlerngeschichte, Jack und Elisabeth, die sich als Nachbarn bereits in- und auswendig studiert haben, bevor sie überhaupt ein Wort miteinander wechselten. Zwei verlorene Landeier im Chicago der 90-er Jahre, zwei Studierende die keine Ahnung davon haben, dass sie Teil der Gentrifizierung der Chicagoer Northside sind. Jack, der sich mit seiner Unangepasstheit dem Grunge- und Heroin-Chic dieser Zeit anpasst und damit Elisabeth, der Tochter aus gutem Hause, gewaltig imponiert. Ich war sofort mittendrin in der Geschichte, befand mich mit den beiden hoffnungsvollen jungen Menschen dort vor Ort, zu einem Zeitpunkt, wo beiden noch voller Hoffnung in eine rosige Zukunft blickten. 20 Jahre später haben sich die Bedürfnisse und Wünsche der beiden verändert, sie streiten über getrennte Schlafzimmer und offene Küchenregale in der geplanten Traumwohnung im Vorort von Chicago und suchen mehr oder weniger verzweifelt nach Möglichkeiten, den alten Zauber ihrer Liebe wieder zu beleben, sei es mit Muskelaufbau mit Fitnesstracker, Bananenpfannkuchen, neuen FreundInnen die als erzkonservative Influencer ihr Unwesen treiben oder mit besonderem Hobby aufwarten ... Und diese Versuche sind höchst erquicklig zu lesen! Nathan Hill schreibt so wunderbar, vor allem die Episoden von Jack waren mir die liebsten, seine schreckliche Mutter und dann der Vater, der sich im unbekannten neuen Internet verliert, das ist ganz große Literatur! Elisabeths Kapitel hatten für meinen Geschmack zu viele wissenschaftliche Quellenangaben. Ich verstehe warum Hill das gemacht hat, das störte allerdings meinen Lesefluss und führt zum Abzug eines Sterns. Mein Fazit: Eine wunderbare Geschichte mit einem unglaublichen passenden Titel und Cover, die ich LeserInnen mit Interesse an zeitgenössischer Literatur und Abstechern in die Psychologie ans Herz legen möchte. Nicht zu vergessen: Die Fotokunst von Jack leitet die Abschnitte ein und macht alles noch greifbarer und lebendiger, tolle Idee!

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