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wandanoir

Posted on 2.1.2024

Kurzmeinung: Wirkt wie ein Spiegel. Gerichtsreport aus dem viktorianischen England Worum gehts? Um einen Gerichtsprozess, der in den Jahren 1871 bis 1874 in London geführt wurde und den Zadie Smith zum Aufhänger ihres neuen Romans „Betrug“ macht, "The Fraud“ heißt der Roman auch im englischen Original. Dabei handelt es sich strenggenommen um zwei Prozesse, die hintereinander geführt werden, einmal um einen zivilrechtlichen Prozeß, bei dem die Identität des Klägers Sir Roger Tichborn bewiesen werden soll, der behauptet, der verschollene Erbe eines großen englischen Vermögens zu sein - und daran anschließend um ein strafrechtliches Verfahren wegen Identitätsdiebstahls. Der Tichborn Fall, der in London verhandelt wurde, zog seinerzeit große mediale Aufmerksamkeit auf sich. Obwohl streng genommen kein Zweifel daran bestehen konnte, dass der Mann aus Australien nicht der totgeglaubte wiederaufgetauchte Roger Tichborne sein konnte, , – hatte der vorgebliche Tichborn eine breite Anhängerschaft und Rückhalt beim einfachen Volk, das die Augen vor unwiderlegbaren Tatsachen verschloss und sich aus dem, was es glauben wollte, eine eigene Wahrheit zurechtzimmerte. Verschwörungstheorien und Fake Facts standen hoch im Kurs. Alles ganz modern! Den Gerichtsprozeß beobachten zwei Damen aus demselben Haushalt, nämlich aus demjenigen des Vielschreibers William Harrison Ainsworth (1805 – 1882). Seine Biografie ist in Zadie Smith Roman verwoben. William Harrison Ainsworth schrieb mit Leidenschaft schwülstige Histoschinken, und hielt sich viel zugute auf seine literarischen Fähigkeiten. Der Kommentar: Zadie Smith widmet sich zwar einem historischen Sujet, nichtsdestotrotz bringt die Autorin den Roman thematisch mit den Themen der Zeit in Berührung: Rassismus, Misogynie, Menschenrechte, Würde des Menschen, Kolonialismus pur und Folgen des Kolonialismus, Funktion und Grenzen des Journalismus, Manipulation und Blendung einer unkritischen Menge, Machtspielchen und Charisma, Aufgeblasenheit der männlichen weißen Oberschicht. Und auch Fake News und Fake Fakts sind keine reine Erfindung von heute. Im Hause Ainsworth ist man im Prinzip fortschrittlicher als anderswo, aber Zadie Smith zeigt, dass selbst von den aufgeschlossensten Köpfen der Gesellschaft, die Fahne der von ihnen verfochtenen Prinzipen von Gerechtigkeit und Gleichheit lediglich in der Theorie hochgehalten wird, sie aber doch scheitern, wenn es in der Praxis darauf ankommt. Und mit ihnen die ganze westliche Gesellschaft. Mit diesen Bezügen zur Realität moderner Gesellschaften macht Zadie Smith ihren Roman für mich interessant, denn ehrlich, für den Tichborne-Fall von anno dunno, interessiere ich mich pe se nicht die Bohne. Der Roman ist kunstvoll komponiert, macht mit der weiblichen, Grenzen überschreitenden Heldin Eliza Touchet, sie ist die ältere Cousine von William Ainsworth und führt ihm den Haushalt, richtig Spaß und findet in der zweiten Mrs. Ainsworth, einem Mädchen aus dem Volk, das kein Blatt vor den Mund nimmt, ein gleichwertiges Gegengewicht. Manchmal ist der Roman mit seinen zeitversetzten Erzählsträngen jedoch ein wenig verwirrend in seiner Opulenz, dennoch ist kein Wort zuviel und man kann den Roman keinesfalls „geschwätzig“ nennen; alle Informationen, die Zadie Smith gibt, haben eine Funktion und ihre Berechtigung. Fazit: Ein ziemlich ungewöhnlicher historischer Roman, der sich dem beliebten viktorianischen Zeitalter alles andere als süßlich annähert und mit vielen spitzen Bemerkungen die Leserschaft zu gewinnen vermag. Kategorie: Anspruchsvolle Literatur Verlag: Kiepenheuer & Witsch, 2023

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