wandanoir
Kurzmeinung: Nathan Hill erneut on top. Von Verführung, Manipulation und der Prärie Als Jack und Elizabeth sich unter ungewöhnlichen Umständen in Chicago kennen und lieben lernen, werden sie das perfekte Paar. Nach ein paar Jahren heiraten sie, bekommen ein besonderes Kind, doch Routine schleicht sich ein. Während Jack damit zufrieden ist und es hingenommen hat, dass er nun einigermaßen etabliert ist, womit er nie gerechnet hätte und seine Liebe zu Elizabeth ungebrochen ist, ist das bei Elizabeth anders, sie wird unruhig. Braucht sie etwas Neues? Der Kommentar: Wie der Leser allmählich mitbekommt, aber nicht die Protagonisten, die einstweilen weiter im Dunkeln tappen, hat das schwerverliebte junge Paar in seiner intensiven Kennenlernphase, dem anderen jeweils entscheidende Eckdaten aus der Kindheit vorenthalten und/oder bis zur Unkenntlichkeit geschönt. Nathan Hill entwickelt die spezifischen Hintergründe seiner Protagonisten äußerst geschickt, behutsam und eloquent; hinter die Kulissen dieses Paars zu blicken ist nicht nur per se schon äußerst interessant, sondern von dort her leuchtet der Autor die Paarbeziehung ganz neu aus, so dass das Bild, das man als Leser anfänglich von Jack und Elizabeth hat, sich langsam dreht wie ein Karussell, es geht immer rund herum, es kommt Facette um Facette zusammen, bis sich das Bild gerundet hat und die Abgünde sichtbar geworden sind. Wir erfahren, dass Elizabeth aus der reichen Oberschicht stammt, mit einem Vater, mit dem nicht gut Kirschen essen gewesen ist, aufgewachsen ist und sie als Kind und Jugendliche an innerer Einsamkeit fast zugrunde geht. Jack dagegen ist ein Landei sehr bescheidener Provenienz. Er wird von der Mutter dominiert, die ihren gesamten Lebensfrust bei Jack ablädt, ihn emotional missbraucht und ihn klein hält. Nur seine große Schwester erkennt das Potential, das in Jack steckt und ermutigt ihn bei ihren seltenen Besuchen im Elternhaus. Ihretwegen ist er imstande, seine muffige Familie zu verlassen und so wird er, allerdings fast zufällig, ein gefragter Künstler der Chicagoer Szene. Nathan Hill beschreibt die einzigartige Schönheit der amerikanischen Prärie, erzählt die Geschichte ihrer Besiedlung und macht uns mit dem Phänomen gezielter Abfackelung der Weiden bekannt, denn Jacks Vater ist ein Spezialist für Brandrodung, ein gefährlicher Job. Hill zeigt uns auch anhand der Prärielandschaft, dass die innere Sicht die äußere Wahrnehmung bestimmt. Wenn zwei Leute aus dem selben Fenster sehen, sehen sie nicht dasselbe! Während Jacks Schwester, die Malerin ist, in ihrer Malerei die Schönheit der Prärie einfängt, sieht der Vater, wenn er auf das Land blickt, nur brennbares oder nicht brennbares Material und die Mutter sieht nur langweilige Graswellen, eigentlich das Nichts, denn daraus besteht ihr Leben, ihrer Meinung nach. In seinen späteren Lebensjahren bekämpfen sich Sohn und Vater aus der Ferne via Facebook. Der Vater ist seltsamerweise ein Querdenker geworden. Jack kann es nicht fassen und will ihn eines Besseren belehren. Nathan Hill zeigt uns als Leser das tatsächliche Blatt, das die Protagonisten auf der Hand haben in ihrem Lebenspoker - denn wiederum wird Entscheidendes verschwiegen in den Facebookdisputen zwischen Vater und Sohn und zwar so lange, bis es zu spät ist. Keiner hat den anderen in sein Blatt schauen lassen, die perfekte Täuschung. Ist es in allen Beziehung so, dass das Entscheidende verschwiegen wird? Nathan Hill lässt uns darüber nachdenken. Überdies erklärt Nathan Hill anhand seiner Protagonisten auf unterhaltsame Weise, wie schnell man abgleitet, wenn man nicht weiß, wie ein Algorithmus funktioniert. Mit Elizabeth Familie versetzt uns der Autor dagegen in die Kolonialgeschichte zurück und kritisiert den Raubtierkapitalismus. Doch das Moralaposteln ist nicht Nathan Hills Ding, dem Moralismus begegnet Nathan Hill, indem er die Ausbeuterväter zitiert, die ihren Kindern vorhalten, dass sie von den Sünden der Vorvorväter alle profitieren. Und beruht nicht sozusagen alles im Westen auf Ausbeutung und ist nicht unser aller Luxus mit Blut und Tränen bezahlt? Der Heuchelei wird die Maske abgerissen. Mit Elizabeth beruflichem Werdegang, sie hat Psychologie und eine Reihe anderer geisteswissenschaftlicher Fächer studiert, versetzt uns Nathan Hill in die Welt der Pharmazie und der Placeboforschung, der sogenannten Wellness. Plötzlich erscheinen Elizabeth und Jacks Beziehung zueinander, aber auch diejenigen zu den Nachbarn und überhaupt allen, in einem völlig neuen Licht. Denn menschliche Beziehungen beruhen auf Verführung, Täuschung und Manipulation. Ist nicht die Liebe selbst eine Illusion? Dann wäre da noch der Immobilienmarkt und der sich überschätzende Immobilienhändler, dem Jack und Elizabeth ihre sämtlichen Ersparnisse anvertraut haben. „Wellness“ ist nicht ganz so brillant wie „Geister“, aber „Geister“ ist sowieso ein Ausnahmeroman, den man nur einmal schreibt im Leben. Trotzdem ist das Niveau Hills bei seinem zweiten Roman keineswegs gesunken. „Wellness“ ist Gesellschaftskritik auf höchster Ebene, in unnachahmlicher unterhaltsamer Weise präsentiert, nie platt, nie belehrend, ohne erhobenen Zeigefinger, dennoch höchst effektiv. Was wird Nathan Hill als nächstes schreiben? Was auch immer, ich will es nicht verpassen! Fazit: Speziell amerikanische und globale problematische Themen, wie zum Beispiel Kolonialgeschichte und die Immobilienblase, verbinden sich in Nathan Hills genial komponiertem Roman „Wellness“ aufs Beste und Unterhaltsamste. Jede Silbe davon habe ich genossen. Ich gebe eine Leseempfehlung. Kategorie: Anspruchsvolle Literatur Verlag: Piper, 2024