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Buchdoktor

Posted on 18.12.2023

Bizarre Stories über Verfall im Alter, Selbstreflexion ... säen Zweifel an der Wahrnehmung der Leser In 15 bisher in Zeitschriften erschienenen Kurzgeschichten bringt Joyce Carol Oates uns verstörende und traumatische Ereignisse im Leben ihrer Protagonist:innen nahe. Schauplätze sind Colleges, ein Café, das Hudson Valley; nördlich von New York gelegene Provinzstädte, Italien als Urlaubsland und ein Café, auf das ein Jugendlicher einen Selbstmordanschlag verübt. „Das (andere) Du“ und „Das Unerwartete“ befasst sich mit Autorinnen an der US-Ostküste, die als Bildungsaufsteigerinnen ihre Heimatorte verließen oder sich dagegen entschieden und ihre Leidenschaft für das Schreiben begruben. Mehrere Stories finden im Purple Onion Café statt (Die Freundinnen, Warten auf Kizer, Letztes Interview). In „Letztes Interview“ erwartet eine Autorin einen Spiegel-Redakteur aus Deutschland anlässlich einer erwarteten Preisverleihung in Berlin. Zwischen Autorin und Interviewer entwickelt sich ein Machtkampf darum, ob der Journalist Interview-Klischees bedienen und ob seine Gesprächspartnerin ihm Anlass geben wird, sie (wie erwartet) in seinem Artikel zu bespötteln. In das Gespräch hinein geschnitten sind Szenen, die Gedanken und Rechtfertigungen des späteren Attentäters übermitteln. In „Mairead“ reist ein alternder College-Professor in die italienische Stadt, in der er einst einen Studienaufenthalt verbrachte. Er erlebt nicht nur die Stadt als unbekanntes, feindliches Terrain, sondern auch die Entfremdung vom eigenen Ich durch altersbedingten Verfall. Zentrales Thema neben Selbstreflexion der Protagonist:innen, Lehr- und Autorentätigkeit, sowie erwartetem Anschlag sind Situationen, in denen alternden Figuren ihr Leben entgleitet und sie mit Krankheit und der eigenen Sterblichkeit konfrontiert sind. Oates gelingt es meisterhaft, ihr Publikum an der eigenen Wahrnehmung zweifeln zu lassen. Sie lockt in bizarre Situationen und verfremdet einige Stories mit der uneindeutigen Du-Form (richtet sie sich an ihre Figur oder ihre Leser:innen?). Mehrfach habe ich mich gefragt, ob ihre Protagonist:innen mitsamt ihren Ängsten und Selbstzweifeln einem Irrtum unterliegen oder ob mir beim Lesen etwas entgangen sein könnte. Wer Sinn für Übernatürliches hat und literarischen Figuren eine - verwirrende - heimliche Agenda zutraut, kann hier zugreifen. ----- Die Ausgabe Das amerikanische Original erschien 2021

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