letterrausch
Hanno Sauer, der Autor des sowohl für den Deutschen als auch den NDR Sachbuchpreis nominierten Buchs „Moral – Die Erfindung von Gut und Böse“ lehrt an der Universität Utrecht Philosophie und Ethik. Beste Voraussetzungen also, um sich auf 400 Seiten an einer Geschichte der Moral abzuarbeiten. Dabei ist der Aufbau des Buchs recht konservativ: Historisch bei den ersten Menschen(ähnlichen) startend, arbeitet er sich über die Zeitachse in mehreren Kapiteln durch verschiedene Entwicklungsschritte von vor 5 Millionen Jahren bis vor fünf Jahren. Dies soll plausibel machen, wie sich menschliche Gesellschaften entwickelten und veränderten und fortan so etwas wie „Moral“ herausbildeten, um das Zusammenleben überhaupt möglich zu machen und im folgenden zu organisieren. Denn am Anfang standen, das ist Sauer offenbar wichtig, kleine familiäre Gruppen oder Sippen bis zu 150 Mitgliedern. Für Sauer scheint diese Kleingruppe so etwas wie der idyllische Urzustand zu sein, denn in diesen Gruppen gibt es: Kooperation. Kooperation erlaubt, größere Tiere zu jagen die Aufteilung von Arbeit. Allerdings funktioniert Kooperation eben auch nur in solch kleinen Gruppen. Sie war der Startschuss zum Siegeszug des Menschen, doch mit den ersten größeren Gesellschaften brauchte es eine Möglichkeit, Kooperation durchzusetzen: nämlich die Strafe. Hanno Sauer arbeitet sich durch die Menscheitsgeschichte und verfolgt dabei unsere moralische und kulturelle Evolution. Aufgeschrieben und logisch hergeleitet erweckt so etwas immer den Eindruck einer logischen Entwicklung hin zum Besseren oder zum Ideal (hin zu unserem jetzigen Ist-Zustand). Doch, wie gesagt: Für Sauer sind die kleingruppen-organisieren Urmenschen ein früher Idealzustand: Es herrschte große Gleichheit innerhalb der Gruppen (allerdings auch durchaus Agression nach außen als Abgrenzung zu anderen Gruppen) und als damaliger Mensch hatte man deutlich mehr Freizeit als ein Vollzeitarbeiter im heutigen kapitalistischen Hamsterrad. Mit den ersten Großgesellschaften und Großreichen kam dann erstmals auch die wachsende Ungleichheit, die wir – besonders ab dem 20. Jahrhundert – versuchen zu bekämpfen und zu überwinden. Darum beschreibt er in den letzten Kapiteln genau diesen Kampf. Es geht um Idenitätspolitik, Wokeness, Cancel Culture und effektiven Altruismus. Manches davon führt nicht weit, weil er nicht über eine schlichte Definition des Begriffs hinausgeht. Anderen Begriffen beziehungsweise politischen Strömungen widmet er ein ganzes Kapitel und schafft es dabei fast gänzlich, sich auf einen deskriptiven und interpretatorischen Duktus zu beschränken, ohne seine eigene Agenda zu pushen oder sich sonstwie (politisch) zu positionieren. Für Sauer gilt nur folgendes: Die Motive hinter diesen Trends sind wichtig. Ungleichheit und Diskriminierung zu überwinden sind – auch im Hinblick auf seine bis zu diesem Zeitpunkt beschriebene Kulturevolution – die essenziellen Punkte unserer modernen Gesellschaften. Nachdem tausende Jahre Menschheitsgeschichte zu immer mehr (sozioökonomischer) Ungleichheit geführt haben, ist es die Aufgabe unserer Zeit, endlich zu (mehr) Gleichheit zu finden. Die Versuche, dies zu erreichen, beschreibt Sauer. Ob diese Versuche den gewünschten Erfolg haben werden, wagt auch er nicht zu prognostizieren. Aber darüber kann vielleicht in 100 Jahren der nächste Philosophie-Professor schreiben … Sauer schreibt gefällig und hat durchaus ein Talent dafür, wissenschaftliche Zusammenhänge auf ein allgemein verständliches Niveau herunterzubrechen. Damit wird „Moral“ gut lesbar und auch die Fußnotenfrequenz ist überschaubar. Wer sich also für das Thema interessiert, sich aber nach einem langen Arbeitstag nicht mit anstrengendem Wissenschafts-Sprech und einer hohen Fremdwortdichte herumschlagen möchte, der wird bei Sauer fündig. Sein Anspruch ist durchaus, über die reine Wissensvermittlung hinaus, lesbar und unterhaltsam zu schreiben. Naturgemäß werden für die meisten wohl die letzten Kapitel die spannendsten sein, weil er hier von einer weit entfernten Vergangenheit in die jüngere Geschichte und sogar in unsere aktuelle Gegenwart springt und uns „die Welt erklärt“. Das tut er fundiert, allgemein verständlich und – immer gern gesehen – unaufgeregt. Eine Empfehlung.