kaffeeringe
„Erst waren wir Sammler und Jäger. Dann kam die Landwirtschaft und mit ihr Eigentum, Könige und Krieg. Heute haben wir Demokratie und Kapitalismus. Ende der Geschichte.“ So in der Art lesen sich Geschichten der Menschheit. In „Anfänge“ erzählen David Graeber und David Wengrow „eine neue Geschichte der Menschheit“ – wie das Buch im Untertitel heißt. „Eine neue Geschichte der Menschheit“ „In diesem Buch legen wir nicht nur eine neue Geschichte der Menschheit vor, sondern wollen den Leser auch zu einer neuen Geschichtswissenschaft einladen, durch die unsere Vorfahren ihre volle Menschlichkeit zurückerhalten. “ Wenn die Geschichte der Menschheit erzählt wird, dann scheint es oft, als sei die Gegenwart unausweichlich gewesen. Der Mensch hat sich vom Jäger und Sammler in kleinen Gruppen, zum Bauern und Untertan, zum Bürger und Konsumenten in kapitalistischen Demokratien entwickelt. Wenn Gesellschaften nicht so sind, dann steht ihnen dieser Schritt erst noch bevor. In Wahrheit ist die Vergangenheit viel komplexer gewesen. Der Anthropologe David Graeber und der Archäologe David Wengrow haben sich neueste archäologische Erkenntnisse aus aller Welt angeschaut und ausgewertet. Die Menschen vor tausenden von Jahren waren nicht dümmer als wir. Wir leben nicht nur mit Steinzeit-Gehirnen in einer modernen Welt – die Steinzeitmenschen lebten in ihrer Zeit mit unseren modernen Gehirnen. Vor allem, was den Umgang miteinander anging, waren sie so kompetent wie wir. Immer wieder haben sie mit verschiedenen Formen des Zusammenlebens experimentiert; haben Gartenbau und Landwirtschaft probiert und wieder verworfen; haben Städte gebaut und sie nur temporär genutzt. Sie hatten Herrscher, die keine Macht hatten oder sie haben sich in Räten selbst organisiert, lange vor den griechischen Demokratien. Die Landwirtschaft hatte nicht zwangsweise das Eigentum als Konsequenz. Das Eigentum hatte nicht die Herrschaft als Konsequenz. Diese Verhältnisse sind stattdessen immer Ergebnisse, sozialer Aushandlung. Die drei Grundfreiheiten David Graeber und David Wengrow beschreiben drei Grundfreiheiten der Menschen: Die Freiheit woanders hinzugehen. Die Freiheit Anordnungen zu verweigern. Die Freiheit neue Formen des Zusammenlebens auszuhandeln. Durch diese Freiheiten konnten die Menschen einfach weggehen und anders leben, wenn ihnen die aktuelle Art des Zusammenlebens nicht gefallen hat. So war die Welt ein bunter Experimentierraum für Gesellschaften, die einander beeinflusst haben – durch Nachahmung und Abgrenzung. So trafen auch die Kolonialisten in Amerika auf Gesellschaften, die keinesfalls primitiv waren. Im Gegenteil. Die „Wilden“ in Nordamerika hatten für sich eine freie, selbstorganisierte Form des Zusammenlebens entwickelt, gegen die die Europäische Ordnung brutal war und die meisten Menschen zu sklaven-artigen Untertanen machte. Viele Gedanken über Demokratie und Sozialismus stammten aus den Ideen der Einwohner Nordamerikas. Diese ideen-geschichtlichen Wurzeln sind heute vergessen. Die Entstehung von Staaten Laut David Graeber und David Wengrow beruht die heutige staatliche Ordnung auf den drei Faktoren Gewalt, Charisma und Bürokratie, mit denen die Menschen in der Vergangenheit experimentiert haben. Es gab Gesellschaften, deren Ordnung auf Gewalt beruhte. Es gab solche, die charismatischen Führern folgten und es gab Gesellschaften, die sich bürokratisch organisierten. Nach und nach kombinierten Gesellschaften diese drei Faktoren miteinander. Heutige Staaten haben ein Gewaltmonopol innerhalb ihrer Grenzen, sie haben eine ausgeprägte Verwaltung – staatlich wie privat – und sie haben einen politischen Wettbewerb mit mehr oder weniger charismatischen Anführerinnen und Anführern. So muss es sein: Es gibt diejenigen, die etwas zu sagen haben und die, die wenig zu sagen haben. Es gibt diejenigen, die viel haben und es gibt diejenigen, die nichts haben. Anders kann man komplexe Gesellschaften nicht organisieren. So lauteten oft die Erklärungen, sagen David Graeber und David Wengrow. Dochdie beiden Autoren zeigen, dass schon vor tausenden von Jahren Städte existierten, in denen die Menschen in komplexen Gesellschaften, gleichberechtigt zusammengelebt haben. Immer wieder haben sie gesellschaftliche Ordnungen abgeschüttelt, die ihnen nicht passten. Die beiden Autoren haben viele Beispiele zusammengetragen und stellen sie umfangreich vor. Lehren für die Zukunft Für mich war die Lektüre wirklich spannend. Das Buch eröffnet eine ganz neue Perspektive auf die Menschheit, die viel bunter ist, als ich sie vorher wahrgenommen habe. Die Menschen haben sich immer schon Gedanken über ihr Zusammenleben gemacht. Auch wenn sie keine heutige Schulbildung hatten, wussten sich doch, wenn sie gut behandelt wurden oder nicht. Sie haben sich überlegt und miteinander besprochen, wie sie leben wollten. Die Mythen von göttlicher Macht hat sie nie dauerhaft knechten können. „Warum haben wir Menschen fast gänzlich die Flexibilität und Freiheit verloren, die früher offenbar für unsere sozialen Ordnungen kennzeichnend waren, und stecken in permanenten Beziehungen von Dominanz und Unterwerfung fest?“ Auch heute erleben wir, dass viele Menschen wachsende Ungerechtigkeiten erfahren und hinterfragen, ob das alles so sein muss. David Graeber und David Wengrow zeigen, dass es in der Vergangenheit schon äußerst gut funktionierende Formen des Zusammenlebens gegeben hat. Unsere Form der kapitalistischen Demokratien gibt es erst seit vielleicht 150 Jahren und die haben den Planeten an den Rand des Untergangs gebracht. Andere Formen des Zusammenlebens waren in der Vergangenheit möglich – warum sollten sie in Zukunft nicht möglich sein?